Unter die Haut
Das Geschäft mit Tattoos und Piercings boomt – trotz Corona
Aus dem Milieu in den Mainstream und aus der Seitenstraße in die Innenstadt: Tattoos sind zu einem Geschäft geworden, dem selbst die Corona-Krise nichts anhaben kann.
Das erste offizielle Tattoo-Studio in Luxemburg eröffnete 1992. 1994 gab es drei Studios. Heute sind es 50 im ganzen Land. Tendenz steigend. Rund 200 Menschen verdienen ihr Geld mit Tattoos, Piercings und PermanentMake-up. Tätowierer ist ein Traumberuf geworden. Und die Branche erlebte einen Sommer wie keinen zuvor. Während bei Friseuren oder im Einzelhandel der Umsatz einbrach, stieg er in den Studios.
Luxusgut
In der Rue Michel Rodange in Luxemburg-Stadt war es der beste August seit zwanzig Jahren. Marion Thill (57), alterslose Erscheinung, bewegt sich ruhig durch den dunkelgrünen Raum. Es ist 10 Uhr am Mittwochmorgen im Studio „One more Tattoo“. Der Name steht in Blattgold und Perlmutt an der Fensterscheibe. Aber er ist nicht nur Deko, er trifft einen Kern der Szene: Viele kommen immer wieder. „Tattoos und Piercings können süchtig machen“, sagt Thill. Ab 11 Uhr stehen die Kunden vor der Tür und das Telefon nicht mehr still. Das ist nicht ungewöhnlich hier. Nur der Zeitpunkt ist es. Tattoos sind ein Geschäft mit starken saisonalen Schwankungen. Im Sommer läuft das Geschäft schlechter, weil man mit einer frischen Tätowierung nicht in die Sonne darf. Und weil das Land im August leer gefegt ist, wenn der Kollektivurlaub ruft. Normalerweise haben Thills tätowierte Arme im August also Verschnaufpause. Aber nach dem Lockdown ging der Umsatz um zehn Prozent nach oben. Keiner der sieben Angestellten ist in Kurzarbeit.
Ähnlich ist es im Studio „Adikt Ink“. „Im Vergleich zum letzten Jahr wurden wir im Mai und Juni mit Anfragen bombardiert“, sagt Inhaber David Pappel. In zwei Shops arbeiten 15 Angestellte. Seit der Wiedereröffnung nach dem Lockdown ist keiner mehr in Kurzarbeit. „Das Geschäft ging sofort wieder los“, sagt Pappel. „Ich vergleiche das mit einem kleinen Luxusprodukt. Das einzige, worauf sich die Leute stürzen, sind Louis Vuitton, Gucci und Tattoos“. Viele Tätowierer im Studio sind für drei Monate ausgebucht. Die Trends im Corona-Jahr: geometrische Formen, Mandalas und mehr Piercings.
Der „berühmteste Tätowierer Luxemburgs“, wie es in der Szene heißt, ist Dan Sinnes. Ruft man ihn an, sagt er: „Komm vorbei.“Sein Studio „Electric Avenue“liegt tatsächlich in der derselben Straße wie Louis Vuitton und Gucci, in der Avenue de la Porte-Neuve. Etwas versteckt im ersten Stock geht die Tür auf, in der Luft das vibrierende Summen der Tätowiermaschinen. Sinnes beugt sich über einen Kunden, malt freihändig Schuppen auf die rasierte Brust unter ihm, kann mühelos tätowieren und sich gleichzeitig unterhalten. Warum boomt das Geschäft seit Corona? „Weil es über Wochen nicht ging, die Leute haben das einfach vermisst“, er zuckt mit den Schultern. Eine weitere Antwort, die man in allen Studios hört: Die Kunden können nicht in den Urlaub fahren, also lassen sie sich Tattoos stechen. Die Kosten können ähnlich ausfallen, der Preis für ein großes Tattoo liegt bei rund
Dan Sinnes (links oben) ist der „berühmteste Tätowierer Luxemburgs“. 1 200 Euro. Kunden bezahlen pro Stunde. Das Projekt auf der Männerbrust unter Sinnes Nadel etwa erfordert drei Sitzungen von mehreren Stunden – dann hält der Kunde den Schmerz nicht mehr aus. Der Stundenlohn liegt zwischen 120 und 180 Euro, VIPs verdienen mehr. Der Jahresumsatz der Branche liegt in den USA bei rund 2 300 Millionen Euro. Das war natürlich schon vor Corona so.
Raus aus der Schmuddelecke
„Es boomt doch seit 20 Jahren“, sagt Sinnes. Als er anfing, waren Tattoos und Piercings das Erkennungszeichen einer Szene. Wollte er etwas über Tätowierungen lernen, musste er in einen Flieger nach London steigen und fand die Bücher, die er suchte, in einem Sex-Shop in einer Seitenstraße. Jetzt genügt ein Klick. Tattoos sind überall. Wie eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Dalia von 2018 zeigt, haben 36 Prozent der Franzosen und der Deutschen mindestens ein Tattoo. In Luxemburg dürfte die Zahl ähnlich hoch sein. Seit 2018 existiert eine Interessenvertretung für den Beruf hinter der Erscheinung, die
Confédération Hair Beauty and Tattoo Guild ist Teil der Fédération des Artisans. Marion Thill ist ihr Vizepräsident. Er hat 1994 das erste Studio in der Hauptstadt eröffnet.
Die Pioniere
Das gesamte Business ist noch so jung, dass seine Antworten auf die Frage, wie er angefangen hat, den Ursprung der Branche skizzieren. Mit 15 ließ sich Thill sein erstes Tattoo in Paris stechen. „Bei Bruno, dem einzigen in der Großregion, der überhaupt tätowiert hat.“Wer „Bruno, Tattoo, Paris“googelt, findet ihn sofort. Bruno Cuzzicoli, ehemaliger Fremdenlegionär, ist eine Berühmtheit in der
Szene, „der erste Tätowierer von Paris“. Thill dagegen ist der erste Piercer von Luxemburg. Seine eigenen machte er sich selbst, wo auch sonst. „Wahrscheinlich waren wir das erste Piercing-Studio im Land.“Thill suchte in den 90ern jemanden, der ihm das Material verkaufen und ihn beraten
sechs bis zehn kommen jedes Jahr hinzu. Die Zugangsvoraussetzungen sind minimal. Es gibt keine Ausbildung. Nach Schätzung der Branche stechen viele Tätowierer illegal, irgendwo in einem Hinterzimmer, unversichert, ungeprüft und steuerfrei. Ein europäisches Problem. „In Berlin gibt es zu viele Studios, das packt der Markt nicht.“Es sind über 900 und rund 7 000 Tätowierer. „Die Leute kommen jetzt hierher, weil sie wissen, hier ist noch Geld“, sagt Thill. Er nennt die Schwarzarbeit „Tätowierer-Tourismus“. Seither stagniert der Markt. Für die Kunden ist er unüberschaubar.
Jugendsünden
Thill nimmt die Wendeltreppe ins Untergeschoss. In der Ecke steht der Sterilisator, in dem das Equipment gesäubert wird, daneben der Laser zum Entfernen von Tattoos. „Schlechte Tätowierer-Wahl“, erklärt Thill, „oder Jugendsünden: Name von Ex-Freund, Freundin.“Er lasert zehn bis 15 Kunden am Tag, maximal zwei bis drei Tage die Woche. „Ich könnte ein separates Business daraus machen.“Aber die Ethik der Szene verbietet das. Nur sollte sich niemand darauf verlassen müssen. Seit Juni 2020 ist ein Gesetz zur Regelung von Tattoos in Kraft getreten, das Gesetz 7000. Es basiert auf dem französischen Gesetz, das es schon seit 2008 gibt. Teil der Vorschrift ist ein Hygienekurs. 21 Stunden soll er dauern. Ein eigenes Gesetz zeigt, welches Business hinter Tattoos und Piercings steht und welche Probleme das mit sich bringt. „Wir verkaufen ja keine Thüringer. Wir arbeiten am lebenden Objekt“, sagt
Thill. Der Druck ein Gesetz zu schaffen, ging von ihm und anderen Betreibern aus. Es ging darum, schwarze Schafe vom Markt zu drängen. Der Strafkatalog sieht Bußgelder von 250 bis 3000 Euro vor und bis zu drei Tagen Gefängnis. „Was natürlich nicht heißt, dass du direkt in den Knast wanderst, wenn dein Mülleimer voll ist“, sagt Thill. Die Federation hat bisher 105 Arbeiter geschult. „Ich finde es unverantwortlich, Leute tätowieren oder piercen zu lassen, die nicht die richtigen Kenntnisse haben.“Damit meint Thill die Hygiene, aber auch das Handwerk.
1994 konnte er sein Studio eröffnen, ohne dass es jemanden gab, der kontrollierte, was er konnte. „Das ist leider immer noch so. Das ist eines unserer größten Probleme und eigentlich verrückt“, sagt er. Bis 2019 waren Tätowierer und Piercer auf der Liste B der Berufe. Offiziell erfordert das eine geringe Qualifikation oder drei Jahre Berufserfahrung. „Das war relativ lasch. Aber immerhin etwas.“Mit dem neuen Gesetz wurden Hygieneschulungen vorgeschrieben, aber der Beruf von der Liste gestrichen. „Das heißt: Jeder darf.“Und viele wollen. Jugendliche heute wollen Influencer, Profisportler oder Tätowierer werden“, sagt Dan Sinnes. Er ist um die ganze Welt gereist, um seine Kunst zu perfektionieren, war wie ein Handwerker auf der Walz. Heute gibt es private Tattoo-Schulen. Aber die sind meist Geldmacherei. Tattoos sind nur zum Teil Handwerk. Das kann man lernen. Aber Tattoo-Artists sind auch Künstler, wie der Name schon sagt. Und das kann nicht jeder werden.