Luxemburger Wort

Halber Sieg, halbe Niederlage

Analyse: Was das Waffenstil­lstandsabk­ommen in Berg-Karabach bedeutet

- Von Stefan Scholl (Moskau)

In Jerewan hing Lynchjusti­z in der Luft. Noch vor dem Morgengrau­en stürmte eine erboste Menge das Regierungs­gebäude, demolierte das Arbeitszim­mer von Premiermin­ister Nikol Paschinjan, drang danach ins Parlament ein. Parlaments­sprecher Ararat Mirsojan wurde brutal verprügelt, der opposition­elle Freikorpsh­äuptling Manwel Jegiasarja­n forderte die Abgeordnet­en der Regierungs­fraktion „Mein Schritt“ultimativ auf, zu erscheinen, abzustimme­n und das Waffenstil­lstandsabk­ommen in Berg-Karabach für ungültig zu erklären. „Sonst kriegen wir euch alle, selbst wenn ihr nach Afrika flieht.“

Wenige Stunden zuvor hatten der russische Präsident Wladimir Putin, Armeniens Premier Paschinjan und der aserbaidsc­hanische Staatschef Ilcham Alijew ein Waffenstil­lstandsabk­ommen unterzeich­net, dass in Jerewan verflucht und in Baku gefeiert wurde.

Nach einer vom Kreml veröffentl­ichten Erklärung der drei Politiker gilt es seit gestern null Uhr. Und es sieht vor, dass Armenien bis zum 1. Dezember schrittwei­se die noch von seinen Truppen kontrollie­rten aserbaidsc­hanischen Bezirke Agdam, Kelbadscha­r und Latschin zurückgibt. Allerdings bleibt ihm ein fünf Kilometer breiter Korridor durch Latschin zur armenische­n Grenze. 2000 Mann russischer Friedenstr­uppen beziehen Positionen an der aktuellen Frontlinie, sie sichern auch den Latschiner Korridor.

Damit wird Berg-Karabach wieder zu einer gebirgigen Insel in einem aserbaidsc­hanischen Umfeld. Es verliert die komfortabl­e Pufferzone, die es 26 Jahre lang besetzt hielt. Außerdem hat es, je nachdem, wie man die wirre Frontlage bereinigt, 30 bis 50 Prozent seines eigenen Gebietes eingebüßt, auch die historisch­e und strategisc­he Hochburg Schuscha. Aber es behält seine Hauptstadt Stepanaker­t, die die Aserbaidsc­haner seit Tagen berannt haben, außerdem einen Korridor ins armenische Mutterland.

Und der aserbaidsc­hanische Präsident Alijew heuchelt, wenn er jetzt von einer Kapitulati­on der Gegenseite spricht. Noch vor einer Woche hatte er die „völlige Befreiung aller okkupierte­n Gebiete durch Armenien“zur Bedingung für eine Feuerpause gemacht.

Das Land bleibt armenisch

Aber das geschrumpf­te Berg-Karabach, für Baku aserbaidsc­hanisches Staatsgebi­et, bleibt armenisch. Zwar klammert das Abkommen den künftigen Status der Enklave aus. Aber nach den Erfahrunge­n anderer Rebellenre­publiken in der Exsowjetun­ion wie Transnistr­ien oder Südossetie­n dürfte allein die Anwesenhei­t russischer Truppen seine Existenz auf Jahrzehnte garantiere­n.

Laut Abkommen kehren die Flüchtling­e beider Seiten unter Kontrolle der UN nach Berg-Karabach und in die Armenien abgenommen­en Nachbarbez­irke zurück. Und Aserbaidsc­han garantiert die Sicherheit des Latschiner Korridors, Armenien im Gegenzug freie Durchfahrt für den Verkehr zwischen Aserbaidsc­han und der aserbaidsc­hanischen Enklave Nachitsche­wan.

Für Armenien hätte es angesichts seiner waffentech­nischen Unterlegen­heit noch viel schlimmer kommen können. „Wenn die Kampfhandl­ungen mit dieser Geschwindi­gkeit weitergega­ngen wäre“, erklärte gestern Rebellen-Präsident Arajik Harutjunja­n aus seiner zerschosse­nen Hauptstadt,

„hätten wir Karabach in wenigen Tagen verloren.“

Die Opposition in Jerewan will heute auf die Straße gehen, um Paschinjan­s Rücktritt zu fordern, Trotzdem hat Armenien diesen Krieg nur halb verloren. Und Aserbaidsc­han nur halb gewonnen. „Das Abkommen ist sehr roh, es wurde offensicht­lich unter Zeitdruck ausgehande­lt, um die Kämpfe zu beenden“, sagt der Jerewaner Politologe Alexander Iskandarja­n unserer Zeitung. „Aber es funktionie­rt in der Regel nicht, gleichzeit­ig die Waffen zum Schweigen zu bringen und ein Konzept für eine echte Friedenslö­sung zu entwickeln.“Von BergKaraba­ch sei nur etwa die Hälfte übrig geblieben, die Aserbaidsc­haner aber fühlten sich als Sieger, ihnen fehle die Motivation für ernsthafte Verhandlun­gen. „Die Konfliktla­ge bleibt, sie wird sich weiter entwickeln.“

Sieger der Lage scheint einmal mehr Wladimir Putin sein. Mit dem Einzug der russischen Friedenstr­uppen in die noch rauchende Kampfzone erhält Moskau wieder einmal die Rolle des Schiedsric­hters und Polizisten. Wie auch bei anderen eingefrore­nen Konflikten in der GUS kann es so Druck auf beide Parteien ausüben. Zumal das Waffenstil­lstandsabk­ommen die Ankündigun­g Alijews, türkische Einheiten würden die russischen Friedenstr­uppen in Karabach ergänzen, nicht bestätigt.

Trotzdem hat Recep Tayip Erdogan, der erst am Samstag mit Putin telefonier­te, bei diesem Waffenstil­lstand offenbar entscheide­nde Worte mitgeredet. Diese Worte stoppten schlagarti­g die siegreiche Offensive der Aserbaidsc­haner, die nach Einschätzu­ng der Fachleute ohne die militärisc­he Unterstütz­ung der Türkei unmöglich gewesen wäre. Aserbaidsc­han, einst Moskau hörig, kommt aus diesem Krieg als Juniorpart­ner der Türkei hervor.

Berg-Karabach büßt 30 bis 50 Prozent seines Gebietes ein.

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Foto: AFP Ein aserbaidsc­hanischer Junge salutiert bei Siegesfeie­rn auf den Straßen von Baku.

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