Halber Sieg, halbe Niederlage
Analyse: Was das Waffenstillstandsabkommen in Berg-Karabach bedeutet
In Jerewan hing Lynchjustiz in der Luft. Noch vor dem Morgengrauen stürmte eine erboste Menge das Regierungsgebäude, demolierte das Arbeitszimmer von Premierminister Nikol Paschinjan, drang danach ins Parlament ein. Parlamentssprecher Ararat Mirsojan wurde brutal verprügelt, der oppositionelle Freikorpshäuptling Manwel Jegiasarjan forderte die Abgeordneten der Regierungsfraktion „Mein Schritt“ultimativ auf, zu erscheinen, abzustimmen und das Waffenstillstandsabkommen in Berg-Karabach für ungültig zu erklären. „Sonst kriegen wir euch alle, selbst wenn ihr nach Afrika flieht.“
Wenige Stunden zuvor hatten der russische Präsident Wladimir Putin, Armeniens Premier Paschinjan und der aserbaidschanische Staatschef Ilcham Alijew ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet, dass in Jerewan verflucht und in Baku gefeiert wurde.
Nach einer vom Kreml veröffentlichten Erklärung der drei Politiker gilt es seit gestern null Uhr. Und es sieht vor, dass Armenien bis zum 1. Dezember schrittweise die noch von seinen Truppen kontrollierten aserbaidschanischen Bezirke Agdam, Kelbadschar und Latschin zurückgibt. Allerdings bleibt ihm ein fünf Kilometer breiter Korridor durch Latschin zur armenischen Grenze. 2000 Mann russischer Friedenstruppen beziehen Positionen an der aktuellen Frontlinie, sie sichern auch den Latschiner Korridor.
Damit wird Berg-Karabach wieder zu einer gebirgigen Insel in einem aserbaidschanischen Umfeld. Es verliert die komfortable Pufferzone, die es 26 Jahre lang besetzt hielt. Außerdem hat es, je nachdem, wie man die wirre Frontlage bereinigt, 30 bis 50 Prozent seines eigenen Gebietes eingebüßt, auch die historische und strategische Hochburg Schuscha. Aber es behält seine Hauptstadt Stepanakert, die die Aserbaidschaner seit Tagen berannt haben, außerdem einen Korridor ins armenische Mutterland.
Und der aserbaidschanische Präsident Alijew heuchelt, wenn er jetzt von einer Kapitulation der Gegenseite spricht. Noch vor einer Woche hatte er die „völlige Befreiung aller okkupierten Gebiete durch Armenien“zur Bedingung für eine Feuerpause gemacht.
Das Land bleibt armenisch
Aber das geschrumpfte Berg-Karabach, für Baku aserbaidschanisches Staatsgebiet, bleibt armenisch. Zwar klammert das Abkommen den künftigen Status der Enklave aus. Aber nach den Erfahrungen anderer Rebellenrepubliken in der Exsowjetunion wie Transnistrien oder Südossetien dürfte allein die Anwesenheit russischer Truppen seine Existenz auf Jahrzehnte garantieren.
Laut Abkommen kehren die Flüchtlinge beider Seiten unter Kontrolle der UN nach Berg-Karabach und in die Armenien abgenommenen Nachbarbezirke zurück. Und Aserbaidschan garantiert die Sicherheit des Latschiner Korridors, Armenien im Gegenzug freie Durchfahrt für den Verkehr zwischen Aserbaidschan und der aserbaidschanischen Enklave Nachitschewan.
Für Armenien hätte es angesichts seiner waffentechnischen Unterlegenheit noch viel schlimmer kommen können. „Wenn die Kampfhandlungen mit dieser Geschwindigkeit weitergegangen wäre“, erklärte gestern Rebellen-Präsident Arajik Harutjunjan aus seiner zerschossenen Hauptstadt,
„hätten wir Karabach in wenigen Tagen verloren.“
Die Opposition in Jerewan will heute auf die Straße gehen, um Paschinjans Rücktritt zu fordern, Trotzdem hat Armenien diesen Krieg nur halb verloren. Und Aserbaidschan nur halb gewonnen. „Das Abkommen ist sehr roh, es wurde offensichtlich unter Zeitdruck ausgehandelt, um die Kämpfe zu beenden“, sagt der Jerewaner Politologe Alexander Iskandarjan unserer Zeitung. „Aber es funktioniert in der Regel nicht, gleichzeitig die Waffen zum Schweigen zu bringen und ein Konzept für eine echte Friedenslösung zu entwickeln.“Von BergKarabach sei nur etwa die Hälfte übrig geblieben, die Aserbaidschaner aber fühlten sich als Sieger, ihnen fehle die Motivation für ernsthafte Verhandlungen. „Die Konfliktlage bleibt, sie wird sich weiter entwickeln.“
Sieger der Lage scheint einmal mehr Wladimir Putin sein. Mit dem Einzug der russischen Friedenstruppen in die noch rauchende Kampfzone erhält Moskau wieder einmal die Rolle des Schiedsrichters und Polizisten. Wie auch bei anderen eingefrorenen Konflikten in der GUS kann es so Druck auf beide Parteien ausüben. Zumal das Waffenstillstandsabkommen die Ankündigung Alijews, türkische Einheiten würden die russischen Friedenstruppen in Karabach ergänzen, nicht bestätigt.
Trotzdem hat Recep Tayip Erdogan, der erst am Samstag mit Putin telefonierte, bei diesem Waffenstillstand offenbar entscheidende Worte mitgeredet. Diese Worte stoppten schlagartig die siegreiche Offensive der Aserbaidschaner, die nach Einschätzung der Fachleute ohne die militärische Unterstützung der Türkei unmöglich gewesen wäre. Aserbaidschan, einst Moskau hörig, kommt aus diesem Krieg als Juniorpartner der Türkei hervor.
Berg-Karabach büßt 30 bis 50 Prozent seines Gebietes ein.