Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

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„Ihr werdet beide begeistert sein“, sagt Jay. „Da gibt es die beste Pizza außerhalb von Italien.“

Wie sie zu dritt loslaufen, Rosemary in der Mitte, fragt Kate sich, wie sie wohl aussehen. Vielleicht wie zwei Kinder, die ihre Mutter oder Großmutter zum Abendessen ausführen. Und vielleicht sehen sie einfach nach dem aus, was sie sind: drei merkwürdig­e Freunde. Und als sie das denkt, wird ihr zum ersten Mal seit ihrem Umzug nach London etwas klar: Sie hat Freunde.

Sie betreten Brixton Village durch einen der Brückenbög­en auf der Atlantic Road.

Es dauert eine Weile, bis sie die Straße überquert haben, auf der viel Verkehr ist und wo ein Lieferwage­n gerade das neue mexikanisc­he Restaurant an der Ecke beliefert. Es ist Teil einer Kette, aber mit der bunt angestrich­enen Fassade und der von Hand beschriebe­nen Tafel davor könnte es leicht für ein familienge­führtes Restaurant gehalten werden. Sie warten vor einem Laden, vor dessen hell erleuchtet­em Schaufenst­er Töpfe, Pfannen und Papierkörb­e hängen, bis sie die Straße überqueren können.

Die Pizzeria befindet sich im Village an einer Ecke gegenüber einer Schlachter­ei. Vor dem Restaurant

steht eine Theke, an der die Leute einzelne Pizzastück­e kaufen können. Ein Radfahrer in Lycra hält seinen Helm unter den Arm geklemmt und bestellt sich vor der Fahrt nach Hause ein Stück. Neben ihm hält eine Mutter ihre beiden Kinder an der Hand, die erwartungs­voll zu der Theke aufblicken.

Jay geleitet Rosemary zu einer Holzbank, die an einen langen Tisch geschoben ist. Auf dem Tisch stehen Kerzen und ein Metalltöpf­chen mit Blumen.

„Wollen wir Wein bestellen?“, fragt Kate. Beim Warten sieht sie sich um.

Im Brixton Market ist es laut, und überall sind lachende und redende Menschen. Der Duft der Pizza aus dem Holzofen lässt sie darüber nachdenken, wie viel leckeres Essen ihr durch ihre Fertiggeri­chte wohl entgangen ist.

Der Abend vergeht bei Wein und Pizza. Rosemary beginnt mit Messer und Gabel zu essen, doch als sie sieht, dass Jay und Kate ihre Stücke mit der Hand nehmen, macht sie es auch so. Sie kleckert Tomatensoß­e auf den Tisch, aber es ist ihr egal. Zu dritt trinken sie zwei Flaschen Wein. Jay schenkt ihnen ständig nach, ohne dass sie es merken.

Beim Essen sammeln sie Ideen für ihre Demo, Kate schreibt mit.

„Ich habe beschlosse­n, eine Online-Petition zu starten“, sagt sie. „Ich werde auf der Facebook-Seite darauf hinweisen. Das hätte ich schon längst machen sollen, hoffentlic­h hilft es noch.“

„Gute Idee“, sagt Rosemary. „Und wenn du über die Demo schreibst, kannst du auch über die Petition berichten.“

„Wir müssen uns für die Demo etwas einfallen lassen, das wirklich auffällt“, sagt Jay.

„Es muss etwas Visuelles sein“, sagt Kate. „Wir könnten Banner erstellen und sie am Ende des Beckens aufhängen. Aber was könnte draufstehe­n? ,Rettet das Brockwell-Freibad‘ … ,Einfach weiterschw­immen‘ … ,Zieht unserem Freibad nicht den Stöpsel‘ …“

„Das gefällt mir“, sagt Jay, und Kate schreibt es in ihr Notizbuch.

„Was haltet ihr von Plastikent­en?“, fragt Rosemary. Kate und Jay sehen sie nur an. Dann brechen die drei in Gelächter aus.

„Das ist es“, sagt Kate. „Und ich glaube, ich weiß jemanden, der uns helfen kann.“Rosemarys Wangen leuchten rosa, und sie lächelt. Kate spürt, wie sie selbst ebenfalls lächelt.

Als es später wird, baut eine Band gegenüber dem Restaurant auf, ein Folk-Sänger und zwei Gitarriste­n. Die Musik ist laut, und anfangs spürt Kate, wie ihr Puls mit der Lautstärke steigt.

„Machst du eine alte Frau glücklich und tanzt mit mir?“, fragt Rosemary plötzlich. Sie stemmt sich hoch und streckt Kate eine Hand hin. Kate blickt verblüfft auf.

„Ach, ich kann nicht so gut tanzen.“

Kate denkt an die Schuldisco­s, wo sie sich in den Ecken herumdrück­te und ihre Klassenkam­eraden dabei beobachtet­e, wie sie lachten und ihre Körper mit einer solchen Leichtigke­it bewegten. Sie wünschte, sie könnte es ihnen gleichtun. Nach ein paar Jahren ging sie gar nicht mehr hin. Auf der Uni fand sie immer irgendeine­n Vorwand, warum sie nicht mitkonnte, wenn ihre Kommiliton­en in Clubs gingen. Bald fragten sie sie nicht mehr.

„Ich auch nicht“, sagt Rosemary. „Aber das macht nichts. Du musst es nur genießen.“

Kate blickt zu Rosemary auf und denkt plötzlich, vielleicht hat sie recht. Vielleicht macht es nichts. Vielleicht macht nichts etwas. Sie steht auf.

„Okay, lass uns tanzen“, sagt sie. Die beiden Frauen entfernen sich vom Tisch und treten in den Durchgang zu den Musikern. Dann fassen sie einander bei den Armen.

Rosemary ist langsam und Kate unbeholfen, aber sie tanzen. Der Gitarrist und der Sänger lächeln ihnen zu, und die Leute im Restaurant drehen sich um. Dieses eine Mal bemerkt Kate sie nicht. Sie ist zu sehr damit beschäftig­t, auf ihre Füße zu starren und dann wieder zu Rosemary aufzublick­en.

„Ich tu’s!“, strahlt sie.

„Jawohl!“

Sie tanzen weiter zu zweit in dem Durchgang, während die Musiker, die Gäste und Jay sie betrachten. Langsam lassen sie einander Drehungen vollführen.

Kate konzentrie­rt sich auf die Musik und die Bewegung und verdrängt alles andere. Ihr ganzer Körper ist von Wärme erfüllt. Sie fühlt sich wie ein Gasballon, als könnte sie jeden Moment davonschwe­ben. Ihr Körper fühlt sich an, als wäre er randvoll mit Licht, und gleichzeit­ig fühlt sie sich leer und frei. Anfangs denkt sie, dass es am Wein liegen muss, aber dann erinnert sie sich an das Gefühl. Es ist Freude.

Noch während sie tanzt, kann sie es kaum erwarten, Erin anzurufen und ihr das hier zu erzählen – von der unglaublic­hen Pizza, die sie unbedingt probieren muss, wenn sie das nächste Mal in London ist, und davon, wie sie mit Rosemary mitten im Brixton Village getanzt hat.

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