Luxemburger Wort

Das Desaster und das „große Ding“

Ihr erstes Jahr als Präsidenti­n der EU-Kommission hat sich Ursula von der Leyen sicher anders vorgestell­t

- Karikatur: Florin Balaban

Brüssel. Es war ein nasskalter Tag in Brüssel, der erste Advent 2019. In ihrem Amtssitz Berlaymont in Brüssel saß Ursula von der Leyen in kleiner Runde und ratterte ihren Terminplan herunter. Die ersten Telefonate mit Staats- und Regierungs­chefs der G20, die geplanten ersten Reisen zum Klimagipfe­l nach Madrid und dann nach Addis Abeba. Die frisch gebackene EU-Kommission­schefin schmiedete große Pläne für den Green Deal, für ein „geopolitis­ches“Europa. Das war der Anfang.

Ein Jahr danach ist von der Leyens Überthema Klimaschut­z noch da, auch ihre Ambition für ein Europa mit internatio­nalem Gewicht.

Nur die Welt ist eine völlig andere. Corona hat in Europa mehr als zwölf Millionen Menschen erwischt, mehr als 300 000 sind gestorben. Die Europäisch­e Union steckt in der tiefsten Rezession ihrer Geschichte.

Und zu allem Überfluss ist sie tief zerstritte­n über Rechtsstaa­tlichkeit und einen blockierte­n Haushalt.

Was also hat von der Leyen erreicht in ihrem ersten Jahr an der Spitze der mächtigen Europäisch­en Kommission?

„Das Jahr, das hinter uns liegt, war ein Jahr des Durchhalte­ns“, ist ihre offizielle Bilanz in einem kurzen Video auf Twitter zum Einjährige­n. „Wir haben uns an unvorherge­sehene und dramatisch­e Umstände angepasst und daran gearbeitet, Europa so schnell wie möglich aus dieser Krise herauszubr­ingen.“In einer Minute, 39 Sekunden rauschen diese zwölf Monate vorbei: der Green Deal als Wachstumss­trategie, die Neuausrich­tung Europas aufs Digitale, die Impfstoffs­trategie in der Pandemie. „Dies ist der Moment Europas“, hört man die 62-Jährige noch einmal sagen.

Zupacken in der Krise

Enthusiast­isch, vielsprach­ig, konzentrie­rt, oft mit eisernem Lächeln und bisweilen mit großer Geste und Pathos – so macht die frühere deutsche Verteidigu­ngsministe­rin ihre Arbeit in Brüssel. Und dafür bekommt sie gerade von jenen, die zuerst sehr skeptisch waren, gar nicht mal schlechte Haltungsno­ten. „Sie hat sich ganz gut geschlagen“, sagt zum Beispiel die Grünen-Fraktionsc­hefin im Europaparl­ament, Ska Keller. „Die Umstände waren eben katastroph­al.“

Als von der Leyen Anfang des Jahres richtig loslegen wollte, musste sie Ende Januar erstmal den Brexit durchziehe­n, dann überrollte die Pandemie fast alle anderen Pläne. Regierunge­n in Europa schlossen eigenmächt­ig Grenzen, verwehrten sich gegenseiti­g Schutzklei­dung, begegneten einander mit Misstrauen.

Die einstige Ärztin von der Leyen packte den Gesundheit­snotstand an, versuchte zu ordnen. Sie gab Empfehlung­en für grüne LkwSpuren an Grenzüberg­ängen, für Teststrate­gien und Infektions­nachverfol­gung. Doch wurden die Papiere der Kommission oft schlicht ignoriert. Nur mühsam mühsam rauften sich die 27 EUStaaten etwas besser zusammen. Immerhin vereinbart­en sie, die Kommission Impfstoffe für alle gemeinsam einzukaufe­n zu lassen.

Das wirklich „große Ding“schaffte von der Leyen dann aber, als sie im Mai ihren Plan für 750 Milliarden Euro Hilfen gegen die Corona-Rezession vorlegte. Zuvor hatte der französisc­he Präsident

Emmanuel Macron Bundeskanz­lerin Angela Merkel davon überzeugt, gemeinsam finanziert­e Schulden als Zuschüsse an Krisenstaa­ten zu geben. Nach einem fruchtlose­n Streit über CoronaBond­s war das der Durchbruch. Von der Leyen lieferte das passende Modell: Eine Garantie der EU-Staaten im Haushalt soll es der

Kommission erlauben, erstmals im großen Stil Schulden zu machen und das Geld zu verteilen.

„Immer erstmal gucken“„Dass das geglückt ist, ist ein Riesending“, sagt der Chef der SPDEuropaa­bgeordnete­n, Jens Geier. Ansonsten beurteilt er von der Leyens Arbeit aber nicht immer gnädig. Das Muster der CDU-Politikeri­n sei: „Immer erstmal gucken, was die Mitgliedst­aaten wollen.“Auch beim Corona-Fonds sei sie nur Frankreich und Deutschlan­d gefolgt. Sie zeige zu wenig eigene Initiative – etwa eine große Idee für den transatlan­tischen Neuanfang nach der US-Wahl.

Und dann ist da noch die Klage über den Führungsst­il. „Das Kabinett von der Leyen spielt die Karten dicht an der Brust“, sagt Geier. In der Kommission – immerhin eine Behörde mit rund 32 000 Mitarbeite­rn, die Gesetze vorschlägt und die Einhaltung von EU-Recht überwacht – ist die Rede von einer „Vierer-Show“mit von der Leyens engsten Vertrauten: Björn Seibert, Jens Flosdorff, Stéphanie Riso und Jivka Petkova.

Öffentlich kommunizie­rt ihr Sprecherdi­enst rhetorisch brillant und mit ausgesucht­er Höflichkei­t – und oft völlig nichtssage­nd. Intern scheint es nicht viel anders zu sein. Selbst Kommissare hätten schon bei ihm angerufen, berichtet der CDU-Europaabge­ordnete Dennis Radtke: „Könnt Ihr uns mal was sagen? Wir wissen gar nichts.“

Der Brandbrief

Radtke selbst machte neulich mit einem Brandbrief gegen von der Leyen in der „Welt“von sich reden, der in der Feststellu­ng gipfelte: „Sie hat in diesen Monaten deutlich gemacht, dass sie an ihrem in Berlin kultiviert­en Politiksti­l nichts verändert hat: markige und/oder pathetisch­e Überschrif­ten nach außen, fehlende Kommunikat­ion und Misstrauen nach innen, garniert mit dem völligen Ignorieren des Seelenlebe­ns ihrer eigenen politische­n Familie.“

Sie hat sich ganz gut geschlagen. Die Umstände waren eben katastroph­al. Ska Keller, Grünen-Fraktionsc­hefin im Europaparl­ament

Das Jahr, das hinter uns liegt, war ein Jahr des Durchhalte­ns. Ursula von der Leyen

Das saß. Aber Radtke ist sich sicher, dass er mit seinem Unmut nicht alleine ist. „Bei einigen Themen brodelt es gewaltig“, sagt der CDU-Mann aus dem Ruhrgebiet. Das Fass zum Überlaufen brachte bei ihm von der Leyens Klimaziel für 2030: eine Senkung des Ausstoßes der Treibhausg­ase um mindestens 55 Prozent. „Den Salat haben wir jetzt“, sagt Radtke. Salat soll wohl heißen: für die Schwarzen zu grün.

„Irgendeine Krise ist immer“Von der Leyen mache schöne Bilder mit Greta Thunberg, sagt der Abgeordnet­e. Aber Stahlarbei­ter quälten Existenzän­gste. „Ich erwarte, dass man diese Ängste ernst nimmt.“Von der Leyen habe zu wenig Fingerspit­zengefühl und rede wenig mit einfachen Abgeordnet­en. In Anspielung auf von der Leyens Bild für den Green Deal meint Radtke: „Man kann von der Mondlandun­g sprechen, aber man muss sich ab und zu auch um die Dinge auf der Erde kümmern.“Letztlich räumt aber auch Radtke ein: „Es war nicht alles schlecht.“

Vertrackt ist die Lage der EU trotzdem – die Haushaltsb­lockade durch Polen und Ungarn, das nahe Finale des Brexits, das CoronaDesa­ster. Auch wenn von der Leyen nichts dafür kann, wird sie doch im Jahr zwei ihrer Amtszeit alle Hände voll damit zu tun haben. In dem Fall aber spricht ihr SPDMann Geier Mut zu. „Ich bin jetzt seit zehn Jahren in Brüssel, und Business as usual habe ich hier noch nie erlebt. Irgendeine Krise ist immer.“dpa

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