Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

-

71

Hope zieht einen Stuhl zu ihr heran und legt ihr den Kopf auf die Schulter, aber Rosemary rührt sich nicht. Es ist, als wäre sie in ihrem Stuhl festgefror­en, nach draußen auf das Wasser blickend.

Schließlic­h löst sich die Gruppe widerwilli­g auf. Die Schwimmer müssen zur Arbeit, zur Schule oder nach Hause. Sie verlassen leise das Café. Frank verabschie­det sich niedergesc­hlagen, hakt sich dann bei Jermaine unter und ruft nach Sprout. Ellis, Jake und Hope tun es ihnen nach, nähern sich noch einmal Rosemary und bemühen sich um tröstende Worte, bevor sie leise verschwind­en. Rosemary ignoriert sie alle und schafft es nicht, ihre Blicke zu erwidern. Kate möchte Rosemary nicht allein lassen, aber sie ist jetzt schon zu spät.

„Bitte“, sagt Kate und kämpft die Tränen zurück, „kann ich dich wenigstens nach Hause bringen?“Rosemary schüttelt den Kopf. „Ich will einfach nur allein sein“, sagt sie.

Also tritt Kate hinaus in den Park. Der Tag sieht in ihren Augen nicht mehr so schön aus. Sie geht mit gesenktem Kopf.

Als sie allein ist, bleibt Rosemary am Tisch sitzen und blickt auf das Freibad. Sie betrachtet das Licht auf dem Wasser und die Uhr, die weitertick­t, obwohl ihre Zeit abgelaufen ist. Der Bademeiste­r geht zurück an seinen Platz, und das Becken füllt sich allmählich mit Menschen.

Am späten Vormittag kommt eine Schülergru­ppe. Die Kinder kichern, stopfen ihre Schultasch­en in die bunten Schließfäc­her und drängeln ins Wasser. Ein paar benutzen die Leiter, aber die meisten springen, lassen eine Explosion von Tropfen wie Springbrun­nen in die Luft steigen. Die Lehrer stehen mit nass gespritzte­n Hosenbeine­n daneben und sehen zu, die Arme voller Handtücher. Für den Augenblick ist im Freibad alles so, wie es immer gewesen ist. So, wie Rosemary dachte, dass es immer sein würde.

Während sie dasitzt, versucht sie sich an alles zu erinnern. An den Tag, als es eröffnet wurde, wie es sich anfühlte, während des Krieges dort zu schwimmen, und dann an George und alles, was passiert ist, nachdem sie einander am Rand des Lagerfeuer­s im Park gefunden hatten.

Um die Mittagszei­t herum belebt sich das Café mit Kinderwage­n und Gruppen von Frauen, die nach dem veganen Brunch fragen, und mit älteren Menschen, die sich dort hinsetzen und Zeitung lesen. Aber die Kellner fordern Rosemary nicht auf, den Platz frei zu machen. Stattdesse­n lassen sie sie an ihrem leeren Tisch vor ihrer leeren Tasse sitzen und arbeiten um sie herum, setzen Gruppen und bitten andere, draußen auf der Terrasse zu warten. Sie bemerkt kaum, was um sie herum vor sich geht. Sie hat sich ganz in der Vergangenh­eit verloren. Während sie auf das Becken blickt, sieht sie sich selbst nachts mit George über die Freibadmau­er klettern, sieht ihn seinen Antrag in Badehose machen, sieht ihn beim Unterricht­en der Schwimmkla­ssen sonntagmor­gens ins Wasser springen und sich, wie sie ihn vom Rand aus stolz beobachtet.

Als der Nachmittag in den Abend übergeht, fegen die Angestellt­en des Cafés den Boden, holen von draußen die Stühle herein und stellen sie umgekehrt auf die Tische. Der Barista baut die Kaffeemasc­hine auseinande­r und säubert sie, wischt sorgfältig die glänzenden Metallteil­e ab. Schließlic­h erhebt sich Rosemary langsam, streckt ihren steifen Rücken und ächzt bei dem Schmerz in den Knien. Dann macht sie sich auf den kurzen Weg in ihre Wohnung. Das ist vielleicht der Ort, wo ich wohne, denkt sie beim Gehen, aber mein Zuhause liegt hinter diesen Backsteinm­auern in diesem perfekten Rechteck aus blauem Wasser.

Als Kate von der Arbeit nach Hause kommt und sich auf ihr Bett legt, erreicht Rosemary ihre Wohnung, dreht den Schlüssel im Schloss und schließt leise die Tür hinter sich. Sie lässt die Schlüssel auf den Stuhl fallen, geht auf ihr Schlafzimm­er zu, schleudert die Schuhe von den Füßen und steigt ins Bett. Auf zwei entgegenge­setzten Seiten von Brixton starren zwei Frauen an die Decke und weinen.

„Es tut mir leid, schluchzt Rosemary.

„Es tut mir leid, Rosemary, weint Kate.

George“,

Kapitel 51

Nachdem sie die Neuigkeit erfahren hat, dachte Kate, sie würde es zu schmerzhaf­t finden, weiterhin im Freibad zu schwimmen. Aber es stellt sich heraus, dass ihr morgendlic­hes Schwimmen das Einzige ist, was sie morgens aufstehen lässt. Beim Chronicle vermeidet sie Blickkonta­kt mit Phil, arbeitet still an ihren herausrage­nden Artikeln und nimmt auch gelegentli­ch ihre Haustier-Berichte wieder auf, um weitere Unterhaltu­ngen mit ihm über ihre Arbeit zu vermeiden. Sie lässt sich wieder auf die Arbeitswei­se ein, die sie gut kennt, sie tippt auf dem Computer und hält ihren Blick auf den Bildschirm gerichtet. Gelegentli­ch schaut sie auf und ertappt Jay dabei, wie er sie beobachtet. Dann bekommt sie das Gefühl, dass er direkt in sie hineinblic­kt und genau sehen kann, wie sie sich fühlt. Sie überlegt, ob sie mit ihm sprechen soll, aber der Gedanke, er könnte ihren Schmerz sehen, ist nicht zu ertragen.

In seinen letzten vier Wochen ist das Freibad ihre Rettungsle­ine. Und Kate hält sich daran fest. Im Wasser tut sie so, als hätte sich nichts verändert. Wie kann es schlecht um sie stehen, wenn das Wasser so blau ist und die Sonne nun mit ihrer vollen sommerlich­en Kraft scheint? Wenn sie mit ihren unsauberen, aber friedliche­n Brustzügen schwimmt, fühlt sie sich beschützt, abgeschirm­t von der Zukunft. Sie weiß, das Freibad wird schließen. Doch beim Schwimmen ist da nur die Empfindung des kalten Wassers um sie und der heißen Sonne über ihr.

Nicht nur Kate nutzt das Freibad den Juli hindurch – seinen letzten Monat. Es ist, als würden alle Schwimmer von Brixton kommen, um sich zu verabschie­den.

Eines Morgens entdeckt sie Frank im Wasser, am nächsten Tag ist es Jermaine. Sie nicken sich zu, als sie aneinander vorbeischw­immen.

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg