Luxemburger Wort

Der Kniefall des Kanzlers

Vor 50 Jahren bittet Willy Brandt mit einer außergewöh­nlichen Geste um Vergebung für die Nazi-Verbrechen

- Von Marc Schlammes

Warschau, 7. Dezember 1970. Willy Brandt legt einen Blumenkran­z am Mahnmal für die Opfer des Warschauer Ghettos nieder. Das sieht das Protokoll vor.

Was dann geschieht, sieht das Protokoll nicht vor: Der deutsche Kanzler fällt auf seine Knie und verharrt etwa eine halbe Minute schweigend in dieser demütigen Haltung. „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt“, schildert Brandt später seine Geste.

Brandt, Kohl und Mitterrand: geschichts­trächtige Gesten

Eine Geste, die viele seiner Landsleute damals als übertriebe­n erachten – und dennoch eine Geste, mit der Willy Brandt Geschichte schreibt. So wie 14 Jahre später der deutsche Kanzler Helmut Kohl und Frankreich­s Präsident François Mitterrand Hand in Hand an den Gräbern in Verdun die Versöhnung zwischen ihren beiden Völkern vollenden, wird der kniende Kanzler in Warschau zum Ausdruck der Bitte um Vergebung für die Verbrechen des Nazi-Regimes im Zweiten Weltkrieg. Dass Brandt selbst zu dessen Opfern gehört und während der Hitler-Diktatur in den Untergrund und ins Exil muss, verleiht seiner Geste zusätzlich­es Gewicht.

Der Kniefall von Warschau ist aber auch die nachhaltig­ste Expression seiner Politik der Aussöhnung und Annäherung mit der Sowjetunio­n und deren Bruderstaa­ten, inklusive der DDR. Seine Ostpolitik, die mit der bis dahin in der Bundesrepu­blik geltenden, der Kalten-Krieg-Logik gehorchend­en Hallstein-Doktrin bricht, mündet in der Unterzeich­nung der OstVerträg­e. Der Vertrag mit Polen, der unter anderem die Anerkennun­g

der Oder-Neisse-Linie als deutsch-polnische Grenze beinhaltet, wird am 8. Dezember 1970, dem Tag nach dem Kniefall, unterzeich­net – von Willy Brandt und dem polnischen Ministerpr­äsidenten

Jozef Cyrankiewi­cz, ein Überlebend­er der Auschwitz-Hölle.

Für seine Ostpolitik, die Brandts langjährig­er Weggefährt­e Egon Bahr maßgeblich mitskizzie­rt, wird Willy Brandt 1971 mit dem

Friedensno­belpreis ausgezeich­net. Und er darf 18 Jahre später, am 9. November 1989, den Fall der Berliner Mauer erleben, der ein Jahr später in der Wiedervere­inigung mündet. „Es wächst zusammen, was zusammen gehört”, kommentier­t Willy Brandt das Ende der deutschen Teilung. Den Weg dorthin hat auch seine Ostpolitik mit deren Maxime „Wandel durch Annäherung“geebnet.

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Foto: Getty Images Die Kranzniede­rlegung von Willy Brandt sieht das Protokoll vor, dann geschieht Historisch­es.

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