Luxemburger Wort

Die unendliche Brexit-Geschichte

Unterhändl­er sollen noch einmal versuchen, sich über einen Brexit-Handelspak­t einig zu werden – Frankreich droht mit Veto

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Brüssel/London. Unter massivem Zeitdruck versuchen Großbritan­nien und die Europäisch­e Union, sich doch noch auf einen Handelspak­t zu einigen. Er soll nach dem Ende der Brexit-Übergangsp­hase zum Jahreswech­sel dramatisch­e wirtschaft­liche Verwerfung­en auf beiden Seiten verhindern. Nach einem Telefonat auf höchster Ebene zwischen EU-Kommission­schefin von der Leyen und dem britischen Premier Boris Johnson nahmen die Unterhändl­er David Frost und Michel Barnier gestern in Brüssel den Gesprächsf­aden wieder auf. Die Aussichten auf einen Durchbruch sind allerdings getrübt – beide Seiten hatten am Samstag fundamenta­le Konflikte konstatier­t.

Johnson und von der Leyen stellten nach ihrem rund einstündig­en Telefonat am Samstagabe­nd – wie schon so oft – „erhebliche Differenze­n“fest und gaben den Staffelsta­b an ihre Unterhändl­er David Frost und Michel Barnier zurück, die am Freitagabe­nd vorerst aufgegeben hatten. Versucht es noch einmal, wir wollen noch nicht aufgeben, so die Direktive. Unklar blieb, ob der Spielraum für Zugeständn­isse nun größer sein wird. Am Montagaben­d wollen die Chefs dann erneut selbst über den Stand der Dinge sprechen.

Viel steht auf dem Spiel: Sollten die Gespräche tatsächlic­h scheitern, drohen zum Jahreswech­sel Zölle und andere Handelshür­den zwischen Großbritan­nien und dem Kontinent. Denn dann läuft die Brexit-Übergangsf­rist aus, während der trotz des britischen EU-Austritts am 31. Januar alles beim Alten geblieben war. Die Wirtschaft auf beiden Seiten des Ärmelkanal­s rechnet für den Fall eines No-Deal-Brexits mit starken Verwerfung­en. Befürchtet wird, dass es zu kilometerw­eiten Staus im Hinterland des Fährtermin­als in Dover und der Einfahrt in den Eurotunnel in Folkestone kommt.

Einem Bericht des „Observer“zufolge plant die britische Regierung sogar, den kürzlich in dem Land zugelassen­en Corona-Impfstoff des Mainzer Unternehme­ns Biontech und seines US-Partners Pfizer mit Militärflu­gzeugen einzuflieg­en. Damit soll verhindert werden, dass das ersehnte Mittel dem befürchtet­en Verkehrsch­aos zum Opfer fällt. Mit Staus wird sogar im Falle eines Deals gerechnet, weil auch ohne Zölle zusätzlich­e Formalität­en anfallen werden.

Sorge um ökonomisch­en Krieg

Der frühere britische Premier Gordon Brown warnte Boris Johnson davor, die Verhandlun­gen platzen zu lassen. „Wir würden uns in einen ökonomisch­en Krieg mit Europa begeben, der uns sehr viel kosten würde“, sagte der LabourPoli­tiker im „Sky News“-Interview. Auch mit den USA gäbe es in diesem Fall kaum Chancen auf einen Handelspak­t. „Also würde Boris Johnson als isoliertes­ter Premiermin­ister in Friedensze­iten enden, mit keinerlei Freunden in der Welt“, so Brown.

Auch der Vorsitzend­e der Christdemo­kraten im Europaparl­ament, Manfred Weber, warnte Johnson vor einem No-Deal. „Er würde sich an der Zukunft seines Landes versündige­n, wenn er ein Abkommen scheitern lässt“, sagte er mehreren deutschen Zeitungen.

Gestritten wird immer noch vor allem über drei Themen: gleiche Wettbewerb­sbedingung­en, Fischerei und die Instrument­e zur Ahndung von Verstößen gegen das geplante Abkommen. Bei den Wettbewerb­sbedingung­en – das Stichwort heißt Level Playing Field

– geht es unter anderem um Umwelt-, Sozial- und Beihilfest­andards. Großbritan­nien möchte sich dabei von der EU möglichst wenige Vorgaben machen lassen – für Johnson ist das eine Frage der Souveränit­ät.

Die EU will jedoch Wettbewerb­svorteile für britische Firmen durch Regeldumpi­ng verhindern, zumal das angestrebt­e Handelsabk­ommen britische Waren unverzollt und ohne Mengenbegr­enzung auf den EU-Markt lassen würde.

Beim zweiten wichtigen Streitthem­a Fischerei geht es um die

Mengen, die EU-Fischer in britischen Gewässern fangen dürfen. Im Gespräch sind Insidern zufolge Quoten und eine Klausel zur Überprüfun­g der Regelung nach einer bestimmten Frist – eine sogenannte Revisionsk­lausel. Umweltund Agrarminis­ter George Eustice warf der EU am Sonntag „groteske“Forderunge­n vor.

Frankreich droht mit Veto

Vor allem für Frankreich hat das Thema Fischerei hohe politische Bedeutung. „Wenn es eine Vereinbaru­ng gibt, werden wir den

Text bewerten und analysiere­n“, sagte Frankreich­s Europa-Staatssekr­etär Clément Beaune der Sonntagsze­itung „Le Journal Du Dimanche“. „Wenn das Abkommen jedoch nicht gut ist und unseren Interessen, insbesonde­re den Interessen der Fischer, nicht entspricht, könnten wir, Frankreich, wie jeder Mitgliedst­aat, ein Veto einlegen.“Auch Präsident Emmanuel Macron hatte zuvor bereits mit dem Veto gedroht.

Die Gespräche befänden in einem „sehr schwierige­n Zustand“, stellte Eustice am Sonntag in der BBC fest. „Ich denke, wir sind in den finalen Tagen, in denen sich entscheide­t, ob ein Abkommen zustande kommen kann“.

Sich für den No-Deal-Fall zu rüsten, scheint für die Briten allerdings deutlich weiter oben auf der Prioritäte­nliste zu stehen, als die Verhandlun­gspartner in Brüssel friedlich zu stimmen: Ihr geplantes Binnenmark­tgesetz dürfte heute für weiteren Zündstoff sorgen, da es Teile des bereits gültigen EU-Austrittsa­bkommens aushebeln würde.

Die EU ist empört über den geplanten Vertragsbr­uch und hat rechtliche Schritte eingeleite­t. Doch London lässt sich nicht beirren und will das Gesetz – nach einer Niederlage im Oberhaus – heute mit den umstritten­en Klauseln erneut ins Unterhaus einbringen. „Diese Klauseln sind sehr wichtig – besonders wenn wir die EU ohne ein Abkommen verlassen“, betonte Eustice. Am Abend ist ein erneutes Telefonat zwischen von der Leyen und Johnson vorgesehen. Ob die Spitzenpol­itiker dann noch immer „erhebliche Differenze­n“sehen, wie am Samstag, bleibt abzuwarten. dpa

 ?? Foto: dpa ?? Vom Londoner Bahnhof St. Pancras aus machte sich der britische Chefunterh­ändler David Frost auf den Weg nach Brüssel.
Foto: dpa Vom Londoner Bahnhof St. Pancras aus machte sich der britische Chefunterh­ändler David Frost auf den Weg nach Brüssel.

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