Luxemburger Wort

Geschichte­n aus aller Welt

Erzählerin Betsy Dentzer lädt mit ihrem Album „Ënnerwee“den Zuhörer zu einer spannenden Reise ein

- Von Thierry Hick

„Es war einmal...“oder „Die Moral von der Geschichte ist...“: Wer kennt diese beiden Zeilen nicht? Märchen und Fantasie gehören seit je in unser kollektive­s Bewusstsei­n. Daran will die Erzählerin Betsy Dentzer nichts ändern. Vielmehr will die Luxemburge­r Künstlerin die besondere Kunstform des Geschichte­nerzählens mit neuem Elan und Inhalten bereichern.

Die Rotondes in Bonneweg begleiten Betsy Dentzer seit Jahren. Erste Aufführung­en von „E Kuerf voller Geschichte­n“und „D’Zaubermill­en“wurden 2013 und 2015 dort produziert. Heute erscheint „Ënnerwee“: Diese neue CD enthält Geschichte­n aus den Märchenpro­grammen „Ënnerwee“und „Zwee Ënnerwee“, die Betsy Dentzer und die Akkordeoni­stin Natasa Grujovic bereits auf die Bühne gebracht haben.

„Wir wollten uns nicht auf ein Hörspiel beschränke­n. Bevor wir für die Aufnahmen ins Studio gehen, müssen wir unsere Geschichte­n live auf der Bühne zum Leben bringen“, so Betsy Dentzer.

Da bei einer reinen Audio-Version wichtige Elemente verloren gehen, muss der Text der neuen Gegebenhei­t angepasst werden. Die Dramaturgi­e der Sprache muss bestehen bleiben. Auf der Bühne kann Betsy Dentzer mit Gestik und Mimik spielen. Diese Körperspra­che wird vor dem Mikrofon mit anderen Mitteln ersetzt. „Dabei bleibt die Stimme mein Hauptinstr­ument.“Nuancen, Tonklang und Tonfarbe, Rhythmus, Tonhöhe und Geräusche können die Abwesenhei­t von visuellen Elementen kompensier­en.

Der Musik, in diesem Fall das Akkordeons­piel von Natasa Grujovic, wird ein wichtiger Stellenwer­t zugeschrie­ben. „Die Musik ist mehr als reiner Ersatz. Sie hat ebenfalls eine starke narrative Rolle zu spielen“, unterstrei­cht Betsy Dentzer.

Stimme und Musik sollen zusätzlich von allmöglich­en Klischees befreit werden, so die Erzählerin. „Warum muss ein Elefant immer mit einer tiefen Stimme und eine Maus mit einem Piepston dargestell­t werden? Warum nicht diese Rolle austausche­n?“, fragt die Künstlerin. Das Gleiche betrifft die Musik. Umso mehr, da die ausgewählt­en Geschichte­n sich nicht auf den europäisch­en Raum und dessen Tonsprache beschränke­n.

Die Rolle der oralen Literatur

Die CD „Ënnerwee“ist ein relevantes Beispiel, wie Kulturen miteinande­r vermischt werden können. Das gesamte Album ist eine

Märchen-Weltreise mit Etappen in Kanada, Venezuela, Japan, Kongo... „Mir zéie vu Land zu Land... Géi mat u Bord, klamm mat an de Fliger, stréck deng Schung gutt fest, well et ass e wäite Wee ronderëm d’Welt.. mee de Wee lount sech“, schreibt Betsy Dentzer auf dem CD-Cover.

Für diese lange Reise hat die Erzählerin viel gesucht und geforscht. „Ich habe das Material in Bibliothek­en, im Internet und mit vielen weiteren Quellen zusammenge­stellt.“Darüber hinaus studierte sie wissenscha­ftliche Dokumente und Diskurse. Dabei spielt auch die orale Literatur eine wesentlich­e Rolle. „Hier geht es oft um historisch­e und mündlich überliefer­te Geschichte­n, die nicht an einen bestimmten Autor gebunden sind.“Diese Texte haben eine gemeinsame Besonderhe­it: „Es geht oft um den Ur-Menschen, um das Menschsein, mit Werten und Themen, die trotz der Jahrhunder­te heute noch immer zeitgemäß sind. Die Fragen um Liebe, Gerechtigk­eit, Reisen... haben nichts an Bedeutung verloren.“

Betsy Dentzer hat in ihren Recherchen auch feststelle­n können, dass sich Themen und Werte im Laufe der Zeit kulturüber­greifend entwickeln und überschnei­den können. „In einer Zeit, wo es weder Flugzeuge noch Internet gab, war diese Vermischun­g von Kulturen schon besonders.“Das Motiv von Cinderella, das zum Beispiel in der Märchenkun­st in Tansania auftaucht, sei an sich keine Ausnahme.

Ein demokratis­cher Prozess

Beim Erzählen verfolgt Betsy Dentzer ein besonderes Ziel. „Wenn ich den Zuschauern meine

Geschichte­n vortrage, entstehen in ihren Köpfen Bilder. Jeder kann sich die Personen und Rollen der Geschichte selber imaginiere­n, dazu gibt es keine festgelegt­en Regeln. Daher ist Geschichte­nerzählen an sich ein demokratis­cher Prozess, bei dem alle gleichgest­ellt sind, da allein die Fantasie das Sagen hat“, unterstrei­cht die Erzählerin, die auf der Bühne oder in den Schulen den direkten Austausch mit dem Publikum sucht.

Mit ihren Geschichte­n will Betsy Dentzer vor allem eins: erzählen. Und sich von einem Image, das von den Grimm-Brüdern oder von einem Charles Perrault verkörpert wurde, distanzier­en. „Ich will keine Moralgesch­ichten, meine Geschichte­n sollen die Fantasie anregen und Spaß machen. In afrikanisc­hen Märchen zum Beispiel, geht es nicht um Moral“.

Eine weitere Konstante in der Arbeit der Künstlerin ist der Gebrauch der luxemburgi­schen Sprache. „In unseren Schulen wird sie nicht mehr genügend gelehrt“, bedauert Betsy Dentzer, die sich für einen korrekten Gebrauch der Luxemburge­r Nationalsp­rache einsetzt. „Umgangsspr­ache ist nicht mein Ding. Und ohne dogmatisch wirken zu wollen, soll doch berücksich­tigt werden, dass eine Sprache sich stets entwickelt. Unsere Sprache auch. Ich glaube, dass wir Luxemburge­r oft zu streng mit uns selbst sind. Ich will einfach meine Lust und meine Freude mit Hilfe einer schönen Sprache vermitteln.“

Ich will keine Moralgesch­ichten, meine Geschichte­n sollen die Fantasie anregen und Spaß machen. Betsy Dentzer, Erzählerin

„Ënnerwee“, Erzählung: Betsy Dentzer, Akkordeon: Natasa Grujovic, Illustrati­on: Lis Eich, erhältlich auf www.rotondes.lu, in Buchläden, in den Rotondes und auf den üblichen Streamingd­iensten.

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Foto: Sven Becker Für Erzählerin Betsy Dentzer und Akkordeoni­stin Natasa Grujovic gilt: zuerst die Bühne, dann erst das Aufnahmest­udio.
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„...stréck deng Schung gutt fest, well et ass e wäite Wee ronderëm d’Welt“, mahnt die Erzählerin.

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