Voll die Härte
Weihnachten mit Baum und Geschenken und Schluss: Deutschland hat sogar für ein Fest in halber Familie zu viele Infizierte
Angela Merkel hat es natürlich vorher gewusst. Man darf sich ja nicht vorstellen, der deutschen Kanzlerin ginge es wie Angela Normalbürgerin. Als die Nationale Wissenschaftsakademie Leopoldina gestern Vormittag dringlich empfiehlt, die Republik pünktlich zum Heiligen Abend in einen wirklichen Lockdown zu schicken und schon am kommenden Montag in einen deutlich verschärften – da ist die Regierungschefin schon informiert. Schließlich berät die Leopoldina die Bundesregierung. Das tun in Sachen Pandemie zwar viele – aber der Akademie kommt eine Sonderrolle zu. Schon weil sie disziplinübergreifend arbeitet. Den aktuellen Vorschlag haben Mediziner und Naturwissenschaftler formuliert, Sozialwissenschaftler und Ethiker, Ökonomen und Juristen.
Zusammengenommen legt die Leopoldina der Politik – und also einer Kanzlerin und 16 Regierungschefinnen und -chefs der Bundesländer – dringlich nahe, zum 14. Dezember alle Schulen und Kitas in vorgezogene Weihnachtsferien zu schicken, außerdem müsse „nachdrücklich zur Arbeit im Homeoffice aufgefordert werden“. Vom Heiligen Abend bis 10. Januar sollen dann bis auf Supermärkte und Apotheken alle Geschäfte geschlossen werden, Reisen „vollständig unterbleiben“, die Ferien andauern und „soziale Kontakte … auf ein Minimum reduziert werden“. Kurz: Es „sollte in ganz Deutschland das öffentliche Leben weitgehend ruhen“.
Die Kanzlerin hat das nicht nur schon gewusst – es muss ihr auch gefallen. Bereits tags zuvor hat sie in der – coronagerecht per Video tagenden – eigenen Bundestagsfraktion von CDU und CSU erklärt, mit den aktuell geltenden Pandemie-Regeln „kommen wir nicht durch den Winter“.
Einer reagiert noch härter als Söder
Dazu gehört zu Beginn der dritten Adventswoche weder Phantasie noch Prophetie. Der seit Anfang November geltende sogenannte Lockdown light wirkt nicht wie erhofft. Die zweite Infektionswelle ist nicht gebrochen, noch nicht einmal deutlich flacher geworden. Dafür hat es einen neuen Inzidenzrekord gegeben, größer 600, und für ganz Deutschland liegt der Wert aktuell bei mehr als 150 statt unter den 50 Infizierten pro 100 000 Einwohner in den zurückliegenden sieben Tagen, die von Merkel und den 16 zur Gefahrenschwelle erklärt worden sind. Kein Bundesland unterschreitet sie noch; Sachsen hat die 350 passiert. In seinen Landkreisen an der Grenze zum ebenfalls schwer mit Covid-19 kämpfenden Tschechien hat es Tage gegeben, an denen die Kühlkammern der Kliniken nicht ausgereicht haben für die Covid19-Toten.
Und so ist ausnahmsweise nicht der Bayer Markus Söder (CSU) der Prediger der härtesten Regeln – sondern sein Kollege Michael Kretschmer (CDU). Am Dienstagnachmittag kündigt er den harten Lockdown à la Leopoldina an. „Es ist die einzige Möglichkeit.“Sein Stellvertreter Martin Dulig (SPD) nennt die Lage im Vier-Millionen-Land „dramatisch“. Und bis Weihnachten sind es nur noch 16 Tage.
Die Leopoldina beschreibt auch, was die Pandemie „am effektivsten“eindämmen würde: „Alle sozialen Kontakte außerhalb des eigenen Haushalts zu unterlassen.“Sie verweist aber zugleich auf die „sehr großen sozialen und psychischen Belastungen“, die das gerade zu Weihnachten „für viele Menschen“bedeuten würde. Also gibt sie Hinweise für möglichst risikofreie Begegnungen, die sehr umfangreich sind. Und sehr kompliziert.
Menschen schätzen Gefährlichkeit von Kontakten falsch ein
Drei Tage zurück hat der Berliner Physik-Professor Dirk Brockmann – der mit Computermodellen die Ausbreitungsmuster von Covid-19 erforscht – in einem „Zeit“-Interview berichtet, wie stark das Virus davon profitiert, dass Menschen die Gefährlichkeit von Kontakten falsch einschätzen.
Die zweite Infektionswelle ist nicht gebrochen, noch nicht einmal deutlich flacher geworden.
So seien für die „Infektionsdynamik“Orte entscheidend, an denen das Virus „von einem Cluster in das nächste überspringt“. Manche sind geschlossen wie Restaurants oder Fitnesscenter. Andere nicht wie Busse, Bahnen – und Kirchen. Brockmann erwähnt außerdem die „Pandemiemüdigkeit“, eine Kategorie der Erfurter Gesundheitswissenschaftlerin Cornelia Betsch. „Nimmt die Müdigkeit zu“, so Brockmann, „sinkt die Bereitschaft, sich zurückzunehmen.“
Die Leopoldina hat ein Sinken der vermiedenen Kontakte von 63 Prozent beim harten Frühjahrslockdown auf 43 bei der LightVersion im Herbst konstatiert. Am Nachmittag verschärft Mecklenburg-Vorpommern seine Regeln ein ganz klein wenig, Bayerns Landtag beschließt den Katastrophenfall, das Saarland verbietet Alkohol in der Öffentlichkeit für den Jahreswechsel, Leipzig und Hamburg den Ausschank von Glühwein to go ab sofort. Die Leopoldina empfiehlt „eine langfristige politische Einigung auf ein klares, mehrstufiges und bundesweit einheitliches System von Regeln“. Ach ja.