Verstand und Gefühl
Angela Merkel will Kanzlerin sein, nicht Mutter der Nation – Die Pandemie nimmt auch darauf keine Rücksicht
Würde sich Angela Merkel an diesem Mittwochvormittag im Deutschen Bundestag hinstellen und den Satz sagen, den Kinder hassen und der selbst den wohlwollendsten Eltern herausrutschen kann: Nicht einmal die AfD dürfte die Kanzlerin schelten. Sie würde es freilich dennoch tun; einfach weil Alice Weidel und Alexander Gauland und der Rest, der im Plenum rechts außen sitzt, ihre Mandate zum größten Teil ihrem Wüten nicht nur gegen Merkels Politik verdanken – sondern vor allem gegen Merkel selbst.
Beim Parlamentsformat, das „Generaldebatte“genannt wird, obwohl es um den Haushalt des Kanzleramts geht, wirkt das Wüten indes ein wenig deplatziert. Weil dieses eine Mal im parlamentarischen Jahr die stärkste Oppositionsfraktion vor dem Regierungschef spricht; oder der Chefin. Die Reaktion findet also vor der Aktion statt.
Bei der AfD macht das nichts. Sie zürnt so oder so, und seit es die Corona-Pandemie gibt, mit neuer Lust. Später wird SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich – Merkels Regierungspartner zwar, nicht aber ihr Parteigänger – mahnend Richtung CDU sagen: „Wer sich auf die AfD einlässt, geht daran zugrunde.“Jeder und jede im Saal aber weiß: Die Warnung geht nach Thüringen, nach Sachsen-Anhalt – Merkel, der CDU-Kanzlerin, gilt sie nicht.
AfD spricht von Spaltung
Sie hat – diesmal von Weidel – das Übliche zugedacht bekommen. Viel Corona-Politik-Schelte – und ein paar Sottisen: „Sie sind es, Frau Bundeskanzlerin, die dieses Land und diese Gesellschaft spalten.“Oder: „Sie sind die beste Kanzlerin, die Grüne und Linke je hatten.“Aber eigentlich wäre mit
Weidels letztem Satz ihre ganze Rede gehalten: „Dieses Land kann Sie und Ihre Politik nicht mehr lange aushalten.“
Die Umfragen sagen anderes: Die Union ist – zum Ende des Vorwahljahrs – nicht nur stärkste Partei, sondern stabil fast viermal stärker als die AfD. Und auch wenn der „Querdenker“-Protest gegen Corona-Regeln – als dessen parlamentarischer Arm die AfD sich gibt – sehr laut ist; sehr groß ist er nicht.
Indes kann, wer in deutschen Städten unterwegs ist – gerade in solchen, die zu Covid-19-Hotspots geworden sind – sehr viel Unterstützung für Merkels harte Pandemie-Linie hören. Von Beginn an hat sie fast immer mehr Restriktion gewollt als fast alle Regierenden der 16 Länder. Und wenn es nach ihr geht, daran lässt sie nun keinen Zweifel, wird der tags zuvor von der Nationalen Wissenschaftsakademie dringlich empfohlene harte Lockdown von
Heiligabend bis 10. Januar (das „Luxemburger Wort“berichtete) republikweit Realität.
Emotionaler Auftritt der Kanzlerin Am Morgen hat das Robert-KochInstitut 590 Tote gemeldet; die höchste 24-Stunden-Zahl bislang. Gegen Ende ihrer Rede sagt Merkel – die in gewohnter Sachlichkeit mit den fast 180 Milliarden Euro Schulden begonnen hat, laut Finanzminister Olaf Scholz (SPD) alle corona-bedingt –, gegen Ende also sagt Merkel: „So hart das ist – und ich weiß, wie viel Liebe dahintersteckt, wenn Glühweinstände oder Waffelbäckereien aufgebaut werden: Das verträgt sich nicht mit der Vereinbarung, dass wir Essen nur zum Mitnehmen für den Verzehr zu Hause einkaufen. Es tut mir leid, es tut mir wirklich im Herzen leid, aber wenn wir als Preis dafür Todeszahlen von 590 Menschen am Tag in Kauf nehmen sollen, dann ist das nicht akzeptabel aus meiner Sicht.“
Natürlich höhnt die AfD dazwischen. Die Gefühle der grundsätzlich so rationalen Kanzlerin reizen Weidel & Co. womöglich noch mehr als deren Vernunft. Sie glaube, das sagt Merkel auch, „an die Kraft der Aufklärung“und „dass es wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, die real sind und an die man sich besser halten sollte“. Sie habe in der DDR Physik studiert, „weil ich ganz sicher war, dass man vieles außer Kraft setzen kann, aber die Schwerkraft nicht, die Lichtgeschwindigkeit nicht und andere Fakten auch nicht“. Für einen Moment durchzieht Heiterkeit das Plenum. Nur die AfD grollt.
Schon am Morgen haben ein paar Länderchefs angedeutet, die harte Nach-Weihnachts-Tour mitzugehen. Aber obwohl Merkel könnte – weil sie schon Anfang September gewarnt hat: „Es ist unverändert ernst“– spart sie sich den Ich-habes-euch-vorher-gesagt-Satz. Ihre Version lautet: „Wenn wir vor Weihnachten zu viele Kontakte haben und es anschließend die letzten Weihnachten mit den Großeltern waren, dann werden wir etwas versäumt haben.“Das Distanzhalten sei „ein bisschen unmenschlich“– aber „nichts, was unser Leben total zerstört“. Nicht sagt Merkel diesmal, dass die Pandemie allen viel zumutet. Dabei ist es nicht zu überhören: Ihr, in ihrem allerletzten Kanzlerin-Jahr, noch die Rolle als Mutter der Nation.