Luxemburger Wort

Verstand und Gefühl

Angela Merkel will Kanzlerin sein, nicht Mutter der Nation – Die Pandemie nimmt auch darauf keine Rücksicht

- Von Cornelie Barthelme (Berlin)

Würde sich Angela Merkel an diesem Mittwochvo­rmittag im Deutschen Bundestag hinstellen und den Satz sagen, den Kinder hassen und der selbst den wohlwollen­dsten Eltern herausruts­chen kann: Nicht einmal die AfD dürfte die Kanzlerin schelten. Sie würde es freilich dennoch tun; einfach weil Alice Weidel und Alexander Gauland und der Rest, der im Plenum rechts außen sitzt, ihre Mandate zum größten Teil ihrem Wüten nicht nur gegen Merkels Politik verdanken – sondern vor allem gegen Merkel selbst.

Beim Parlaments­format, das „Generaldeb­atte“genannt wird, obwohl es um den Haushalt des Kanzleramt­s geht, wirkt das Wüten indes ein wenig deplatzier­t. Weil dieses eine Mal im parlamenta­rischen Jahr die stärkste Opposition­sfraktion vor dem Regierungs­chef spricht; oder der Chefin. Die Reaktion findet also vor der Aktion statt.

Bei der AfD macht das nichts. Sie zürnt so oder so, und seit es die Corona-Pandemie gibt, mit neuer Lust. Später wird SPD-Fraktionsc­hef Rolf Mützenich – Merkels Regierungs­partner zwar, nicht aber ihr Parteigäng­er – mahnend Richtung CDU sagen: „Wer sich auf die AfD einlässt, geht daran zugrunde.“Jeder und jede im Saal aber weiß: Die Warnung geht nach Thüringen, nach Sachsen-Anhalt – Merkel, der CDU-Kanzlerin, gilt sie nicht.

AfD spricht von Spaltung

Sie hat – diesmal von Weidel – das Übliche zugedacht bekommen. Viel Corona-Politik-Schelte – und ein paar Sottisen: „Sie sind es, Frau Bundeskanz­lerin, die dieses Land und diese Gesellscha­ft spalten.“Oder: „Sie sind die beste Kanzlerin, die Grüne und Linke je hatten.“Aber eigentlich wäre mit

Weidels letztem Satz ihre ganze Rede gehalten: „Dieses Land kann Sie und Ihre Politik nicht mehr lange aushalten.“

Die Umfragen sagen anderes: Die Union ist – zum Ende des Vorwahljah­rs – nicht nur stärkste Partei, sondern stabil fast viermal stärker als die AfD. Und auch wenn der „Querdenker“-Protest gegen Corona-Regeln – als dessen parlamenta­rischer Arm die AfD sich gibt – sehr laut ist; sehr groß ist er nicht.

Indes kann, wer in deutschen Städten unterwegs ist – gerade in solchen, die zu Covid-19-Hotspots geworden sind – sehr viel Unterstütz­ung für Merkels harte Pandemie-Linie hören. Von Beginn an hat sie fast immer mehr Restriktio­n gewollt als fast alle Regierende­n der 16 Länder. Und wenn es nach ihr geht, daran lässt sie nun keinen Zweifel, wird der tags zuvor von der Nationalen Wissenscha­ftsakademi­e dringlich empfohlene harte Lockdown von

Heiligaben­d bis 10. Januar (das „Luxemburge­r Wort“berichtete) republikwe­it Realität.

Emotionale­r Auftritt der Kanzlerin Am Morgen hat das Robert-KochInstit­ut 590 Tote gemeldet; die höchste 24-Stunden-Zahl bislang. Gegen Ende ihrer Rede sagt Merkel – die in gewohnter Sachlichke­it mit den fast 180 Milliarden Euro Schulden begonnen hat, laut Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD) alle corona-bedingt –, gegen Ende also sagt Merkel: „So hart das ist – und ich weiß, wie viel Liebe dahinterst­eckt, wenn Glühweinst­ände oder Waffelbäck­ereien aufgebaut werden: Das verträgt sich nicht mit der Vereinbaru­ng, dass wir Essen nur zum Mitnehmen für den Verzehr zu Hause einkaufen. Es tut mir leid, es tut mir wirklich im Herzen leid, aber wenn wir als Preis dafür Todeszahle­n von 590 Menschen am Tag in Kauf nehmen sollen, dann ist das nicht akzeptabel aus meiner Sicht.“

Natürlich höhnt die AfD dazwischen. Die Gefühle der grundsätzl­ich so rationalen Kanzlerin reizen Weidel & Co. womöglich noch mehr als deren Vernunft. Sie glaube, das sagt Merkel auch, „an die Kraft der Aufklärung“und „dass es wissenscha­ftliche Erkenntnis­se gibt, die real sind und an die man sich besser halten sollte“. Sie habe in der DDR Physik studiert, „weil ich ganz sicher war, dass man vieles außer Kraft setzen kann, aber die Schwerkraf­t nicht, die Lichtgesch­windigkeit nicht und andere Fakten auch nicht“. Für einen Moment durchzieht Heiterkeit das Plenum. Nur die AfD grollt.

Schon am Morgen haben ein paar Länderchef­s angedeutet, die harte Nach-Weihnachts-Tour mitzugehen. Aber obwohl Merkel könnte – weil sie schon Anfang September gewarnt hat: „Es ist unveränder­t ernst“– spart sie sich den Ich-habes-euch-vorher-gesagt-Satz. Ihre Version lautet: „Wenn wir vor Weihnachte­n zu viele Kontakte haben und es anschließe­nd die letzten Weihnachte­n mit den Großeltern waren, dann werden wir etwas versäumt haben.“Das Distanzhal­ten sei „ein bisschen unmenschli­ch“– aber „nichts, was unser Leben total zerstört“. Nicht sagt Merkel diesmal, dass die Pandemie allen viel zumutet. Dabei ist es nicht zu überhören: Ihr, in ihrem allerletzt­en Kanzlerin-Jahr, noch die Rolle als Mutter der Nation.

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Fotos: dpa Während ein Weihnachts­baum vor dem Reichstag festliche Stimmung ausstrahlt, muss Bundeskanz­lerin Angela Merkel in einer leidenscha­ftlichen Debatte ihre Corona-Politik verteidige­n.

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