Menschenrechte auf Chinesisch
Offiziell hat Peking Menschenrechte in die Verfassung aufgenommen – In der Realität werden sie jedoch missachtet
Mit fast schon unfreiwilliger Komik demonstriert Pekings Sicherheitsapparat, wie es unliebsame Stimmen zum Verstummen bringen möchte: Am Dienstag haben sich gleich ein halbes Dutzend chinesischer Menschenrechtsanwälte auf Twitter zu Wort gemeldet. Auf der in ihrem Heimatland gesperrten Online-Plattform luden sie fast identische Handyvideos hoch. Auf den Clips ist zu sehen, wie Sicherheitsbeamte in Zivil vor den Haustüren der unliebsamen Regierungskritiker patrouillieren. Ihnen wurde allesamt erklärt, dass sie bis einschließlich des 10. Dezembers ihre Wohnungen nicht verlassen dürfen.
Der Zeitpunkt ist natürlich nicht willkürlich gewählt, denn heute ist der internationale Tag der Menschenrechte – für Chinas Staatsführung Grund genug, seine wenigen verbliebenen Aktivisten unter temporären Hausarrest zu stellen. Viele Außenstehende dürfte die Tatsache überraschen, dass die Volksrepublik nicht nur die meisten Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen ratifiziert, sondern auch deren Einhaltung in die Verfassung aufgenommen hat. Mehr noch: Immer wieder propagieren die staatlich kontrollierten Medien, dass die Menschenrechtssituation im Land noch nie so gut gewesen sei wie jetzt.
Eine andere Interpretation
„Ich habe 1980 das erste Mal China besucht. In Peking gab es damals keine Hochhäuser und kaum Autos. Die Leute konnten ihre Kleidung nicht wählen, geschweige denn ihren Wohnort oder ihr Studium“, sagt etwa der singapurische Politikwissenschaftler Kishore Mahbubani, der mit seiner These des „asiatischen Jahrhunderts“weltweit für Furore gesorgt hat: „Nun schauen Sie sich das jetzige China an“. Tatsächlich hat der neugewonnene Wohlstand viele Freiheiten
für die Bevölkerung mit sich gebracht.
Doch auch abseits des rein materiellen Aufstiegs argumentiert Chinas Regierung stets, dass sich ihre Interpretation von Menschenrechten grundlegend von denen westlicher Staaten unterscheidet. In einem aktuellen Meinungskommentar der Propagandazeitung „China Daily“heißt es, die allgemeine Menschenrechtsdeklaration würde sich „zu sehr auf den Machtmissbrauch von Regierungen konzentrieren, nicht jedoch auf den Machtmissbrauch von Staatsbürgern“. Die Botschaft ist deutlich: Im Sinne „gesellschaftlicher Stabilität“müssen die Rechte des Einzelnen hintanstehen. Kollektive Interessen stünden stets an erster Stelle.
Mit jener Logik rechtfertigt Chinas Staatschef Xi Jinping die teils gravierendsten Menschenrechtsverletzungen unserer Zeit – allen voran die Internierungslager in der Provinz Xinjiang, in denen Hunderttausende Muslime der uigurischen Minderheit festsitzen. Unter katastrophalen Bedingungen müssen die Insassen Zwangsarbeit leisten und ideologische Indoktrinierung ertragen.
Laut Peking hingegen handele es sich lediglich um „Ausbildungszentren“, um radikale Muslime in die Gesellschaft zu integrieren. Im Hinblick auf universale Menschenrechte wirken solche Aussagen jedoch geradezu zynisch: Schließlich wird auf eine durchaus reale Gefahr von Terror und Separatismus mit der Unterdrückung einer gesamten Volksgruppe reagiert.
Ganz gleich in welchem Bereich, unter Xi Jinping hat sich Chinas Menschenrechtssituation drastisch verschlimmert: Systematisch wurden kritische Journalisten sowie Dissidenten verhaftet, unliebsame Professoren ihres Posten enthoben und sensible Mediendiskurse zensiert. Auch die noch vor zehn Jahren durchaus aktive Zivilgesellschaft in Chinas Hauptstadt Peking
Die Botschaft ist deutlich: Im Sinne „gesellschaftlicher Stabilität“müssen die Rechte des Einzelnen hintanstehen.
Unter Xi Jinping hat sich Chinas Menschenrechtssituation drastisch verschlimmert.
verdient längst ihren Namen nicht mehr.
Zudem werden zunehmend ausländische Korrespondenten in ihrer Arbeit bedrängt und drangsaliert. Wer in „sensible“Berichterstattungsgebiete reist, muss mit ständiger Verfolgung von Sicherheitsbeamten rechnen. Immer wieder sind in den vergangenen Jahren westliche Korrespondenten temporär festgenommen worden oder aus Angst vor Verhaftungen außer Landes geflohen. Im Corona-Jahr hat sich der Staatsapparat nun auch die Demokratiebewegung Hongkongs vorgenommen. Mit einem aufgezwungenen „Gesetz zur nationalen Sicherheit“hat es sämtliche grundsätzliche politische Opposition unter Strafe gestellt. Seither werden fast täglich Politiker und Aktivisten in der ehemaligen britischen Kronkolonie verhaftet oder von ihrem Mandat enthoben.
Austausch ohne Resultate
Dennoch bleiben nach wie vor ein paar Kanäle mit Peking offen. Praktisch nur mit Deutschland lässt China einen Menschenrechtsdialog zu, der im Sommer bereits zum 16. Mal abgehalten wurde. Handfeste Resultate sind von den Gesprächen jedoch nicht zu erwarten. Die Menschenrechtsbeauftragte der deutschen Bundesregierung, Bärbel Kofler, sprach nach der per Videokonferenz abgehaltenen Veranstaltung von einer „dramatischen“Verschlechterung der Lage: „Ich beobachte seit geraumer Zeit, wie China dramatisch immer weiter hinter den internationalen Verpflichtungen zurückfällt“. Gleichzeitig würden ihre Gesprächspartner keinerlei Bereitschaft zeigen, auf konkrete Fälle wirklich einzugehen.