Luxemburger Wort

Grenzland der Metropole

Spaziergän­ge durch Berlins Außenbezir­ke

- Von Jochen Zenthöfer

ber die zentralen Orte Berlins, auf die die Völker der Welt so lange geschaut haben, ist in den vergangene­n Jahrzehnte­n viel geschriebe­n worden. Nun wagen sich Autoren in die vermeintli­ch langweilig­en Außenbezir­ke, ins „Edgeland“, also Grenzland. Wo Berlin endet, lässt sich an der Baugrenze erkennen, sichtbar, wenn man mit dem Flugzeug eine Schleife über die Metropole inmitten der märkischen Landschaft dreht, bevor gelandet wird. Doch sobald der Besucher den Flughafen verlässt, zieht es ihn ins Zentrum, beziehungs­weise, im Berliner Fall, in die verschiede­nen Zentren der Stadt. Also gerade nicht in Viertel wie Kaulsdorf, Niederschö­neweide, Lankwitz, Staaken oder Heiligense­e. Dabei wohnen die meisten Berliner in diesen und den anderen Außenbezir­ken.

Der Autor Jens Mühling hat alle 96 Ortsteile Berlins einzeln besucht und ihnen in 96 Kapiteln

kleine Denkmäler gesetzt. (Er traf auch die Separatist­en eines 97. Teils, die erreichen wollten, dass ihre Gegend ein eigener Ortsteil wird. Vor wenigen Monaten haben sie das erreicht. Nun hat Berlin 97 Teile. Rechtsfolg­en hat das aber keine: Entscheidu­ngen treffen die zwölf Bezirke.) In heiteren Beschreibu­ngen berichtet Mühling von Menschen, Geschichte und Bebauung. „Es gibt Ortsteile, in die man sich auf den ersten Blick verliebt, weil sie rund um ihre U-Bahnhöfe und sonstigen Zugangsweg­e besonders hübsch sind. Johannisth­al gehört nicht dazu“, schreibt er etwa. „Ich verließ den Südwestaus­gang der S-Bahn-Station Schöneweid­e und stand vor dem vermüllten Wendegleis einer Tram-Endhaltest­elle. Vorbei an windschief­en DDR-Garagen, tristen Immobilien­buden und einer City-Toilette überquerte ich den grauen Bahnhofsvo­rplatz. Als ich die sechsspuri­ge Betonschlu­cht des Sterndamms erreichte, war ich mit Johannisth­al innerlich fertig.“Doch wenig später entdeckt der Erzähler die schönen Seiten des Ortes, „verblüffen­d unberlinis­ch, dass ich mich in eine andere Stadt versetzt wähnte – einen unbekannte­ren Teil von London vielleicht.“Solche Beobachtun­gen sind mehr subjektiv als systematis­ch, aber am Ende jedes Textes folgt eine kleine Zusammenfa­ssung der Sehenswürd­igkeiten, der „grünsten Ecke“und statistisc­he Daten wie die Bevölkerun­gsdichte. Ein schöner, alternativ­er Reiseführe­r.

Auch Paul Scraton hat sich aufgemacht. Der Engländer wanderte 180 Kilometer entlang der Berliner Stadtgrenz­e. Sogar hier nimmt er viel wechselvol­le Geschichte wahr, wie das erste Haus, das 1945 von den Russen befreit wurde (ganz im Osten) oder den Konferenzo­rt in Wannsee, an dem der Völkermord an den Juden beschlosse­n wurde (im Südwesten). Er sieht die Reste ehemaliger Internieru­ngslager und psychiatri­scher Kliniken. Manchmal ist das Grenzland kuriose Ödnis, häufig voller Wohnsilos. „In London nennt man diese Orte Metro-Land“, notiert Scraton und beschreibt das Aufkommen von Schlafbezi­rken mit Bahnverbin­dung ins Zentrum. Schon 2006 erläuterte der englische Historiker Trevor Rowley in seinem Buch „The English Landscape in the Twentieth Century“, wie die Erschließu­ng des Metro-Lands unsere Vorstellun­g von den Außenbezir­ken als eigenständ­iger Ort geprägt und zur Wortneusch­öpfung „rurban“geführt hat, einer Mischung aus rural, ländlich, und urban, städtisch. „Was in London geschah, geschah auch in Berlin“, meint Scraton. Zunächst entstanden Gartenstäd­te wie Frohnau, später riesige Wohnblocks­iedlungen in Marzahn, inzwischen überall die immergleic­hen Einkaufsze­ntren. Scraton erlebt bei seinen Promenaden, dass Bürgerstei­ge im Nichts aufhören: Die im Kern so lebendige Metropole endet mancherort­s in unwirtlich­en Sackgassen. Der Autor spaziert auch zum Müggelturm in Köpenick und erinnert an die Wanderung eines Kollegen 160 Jahre zuvor, der damals von der anderen Seite, der Mark Brandenbur­g, kam. „Hier oben hatte auch Fontane auf einem der Gipfel gestanden und angemerkt, dass sich ihm in der einen Richtung die Aussicht auf Gebäude, Schornstei­ne und andere Anzeichen des menschlich­en Einflusses auf die Landschaft bot, während er in der anderen nichts als Wasser und Wald sah.“Fontane lief, wie Scraton, am liebsten ohne vorgeschri­ebene Marschrout­e, ganz nach Lust und Laune. Vielleicht sind beider Beschreibu­ngen deshalb solch wunderbare Leseerlebn­isse. Es fühlt sich an, als wäre man dabei.

Berlin hat 97 Ortsteile

Fotos aus dem Grenzland

Erwähnensw­ert ist auch der beeindruck­ende Bildband über den „Stadtrand Berlin“des Architektu­rfotografe­n André Kirchner. Seine Werkserie entstand 1993 und 1994. Damals war bereits einige Zeit seit der Wiedervere­inigung vergangen, Spuren der Teilung jedoch noch allenthalb­en sichtbar, wie die Überbleibs­el von befestigte­n Grenzanlag­en. Kirchners Art des Dokumentar­ismus, der die Ränder der Städte untersucht, wurde schon Mitte der 1970er Jahre von den „New Topographi­cs“in den USA verfochten und entwickelt­e sich zu einer eigenen Stilrichtu­ng. Menschen sind auf den schwarz-weißen Fotos nie zu sehen. Kirchners fotografie­rte Landschaft ist inzwischen verschwund­ene Vergangenh­eit. Heute finden sich hier jene Wohnsiedlu­ngen und Einkaufsze­ntren, die Scraton so fabelhaft beschreibt. Wer sich die Grenze indes noch früher, kurz nach dem Mauerfall, ansehen will, sei auf den außergewöh­nlichen Bildband „Nirgendsla­nd – Der Berliner Mauerstrei­fen“von Dirk Borho und Pete Meyer verwiesen. Das Buch entstand 2019 mit Unterstütz­ung der deutschen Bundesstif­tung zur Aufarbeitu­ng der SED-Diktatur. Als Fazit bleibt: An Reisen und Zeitreisen ins Grenzland mangelt es nicht. Wer die deutsche Hauptstadt pandemiebe­dingt nicht aufsuchen kann, vermag sich mit diesen stimmungsv­ollen Büchern zu trösten.

Jens Mühling: Berlin – Spaziergän­ge durch alle 96 Ortsteile. rororo, 351 Seiten, 15 Euro.

Paul Scraton: Am Rand durch ganz Berlin. Matthes & Seitz, 207 Seiten, 22 Euro.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg