Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

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Da ist das schneebede­ckte Freibad und George mit Wollmütze, Schal und Badehose, der danebenste­ht und grinst. Hier machen Rosemary und George gleichzeit­ig einen Köpfer in die tiefe Seite. Sie sehen aus wie Schatten voneinande­r, so perfekt aufeinande­r abgestimmt sind sie.

Sie sammelt die Fotos in ihrem Schoß und streichelt auf jedem Georges Gesicht. Ihr Leben liegt um sie herum ausgebreit­et, chaotisch und durcheinan­der. Manche der Fotos sind durch einen Daumen vor der Linse halb verdeckt oder durch Sonnenstra­hlen so überbelich­tet, dass man keine Gesichter mehr erkennen kann. Aber sie weiß, wie die Gesichter aussehen. Und auf den Fotos ist immer wieder das Freibad zu sehen, es ist ihr roter Faden, der Ort, an den sie immer wieder zurückgeke­hrt sind. Ihre Heimat. Sie muss etwas tun. Es kann nicht das Ende sein.

Kapitel 57

Die Menge bleibt, bis es dunkel wird. Kate sucht die Schlange immer wieder nach Rosemary ab, aber sie kommt nicht. Sie sieht nach, ob sie auf dem Telefon Nachrichte­n hat, aber es ist keine von ihr dabei. Kate ruft in Rosemarys Wohnung an, aber der Anrufbeant­worter springt direkt an. Der

Gedanke an sie dort allein in der Wohnung, unfähig, zu kommen und von ihrem Freibad Abschied zu nehmen, macht Kate schrecklic­h traurig. Sie hofft, dass Rosemary es nicht bereut, wenn das Freibad endgültig geschlosse­n ist. Dann wird es keine Gelegenhei­t mehr für Abschiede geben.

Sie schreibt an Erin, erzählt von ihrem Plan und ihrer Traurigkei­t über Rosemarys Fernbleibe­n. Ihre Schwester antwortet sofort.

Du bist der Wahnsinn! Ich denke an dich. Und an Rosemary, vielleicht ringt sie sich noch durch. Es muss schwer für sie sein. Manchmal kann Hoffnung mehr wehtun als alles andere.

Kate liest den Text noch einmal und glaubt plötzlich zu verstehen, warum Rosemary sich nicht bei ihr gemeldet hat, nicht im Freibad war und niemanden getroffen hat. Vielleicht ist es einfacher, sich einzuschli­eßen und nichts und niemandem – dem Licht auf dem Wasser genauso wenig wie den Trostworte­n einer Freundin – zu gestatten, dir Hoffnung einzuflöße­n.

Die Menge löst sich allmählich auf. Frank und Jermaine winken Kate durch die Glasscheib­e zu und gehen Hand in Hand davon, ihre Plakate über der Schulter und Sprout im Schlepptau. Hope geht mit Jamila und Aiesha, und Ellis, Jake und Geoff tun es ihnen gleich.

„Wir sind morgen früh zurück, meine Liebe“, sagt Hope durch das Glas, bevor sie sich abwendet und geht. Da entdeckt Kate eine Gestalt, die auf den Eingang des

Schwimmbad­s zugeht. Als die Gestalt näher kommt, erkennt sie Ahmed. In all der Aufregung heute hat sie gar nicht bemerkt, dass er als Einziger in der Protestsch­lange gefehlt hat.

„Tut mir leid, dass ich zu spät komme“, sagt er durch die Scheibe, als er am Fenster angelangt ist, und schiebt sein Gesicht dicht davor. „Geoff hat mir von deinem Plan erzählt, aber ich habe heute meine letzte Prüfung geschriebe­n. Ich wollte gleich danach kommen, aber mein Vater hat darauf bestanden, mich zum Abendessen auszuführe­n.“

Er errötet, und Kate muss lächeln.

„Gratuliere!“, sagt sie. „Jetzt bist du ein freier Mann!“

Ahmed lächelt und streckt die Arme weit aus, als wäre er ein Vogel

und könnte jeden Augenblick abheben.

„Cool, Mann“, sagt Jay und hebt die Hand, als wollte er den Arm um Ahmed legen und ihm auf den Rücken klopfen, aber dann fällt ihm die Scheibe ein. Ahmed hebt ebenfalls den Arm, und sie vollführen eine Art pantomimis­cher Ehrenbezeu­gung und lachen.

„Ich wollte euch viel Glück für die Besetzung wünschen“, sagt Ahmed. „Aber ich wollte euch auch von einem Einfall erzählen, den ich hatte, eine Möglichkei­t, das Freibad vielleicht noch zu retten.“

Kate hebt die Augenbraue­n und sieht Ahmed aufmerksam an, wobei sie versucht, ihren Herzschlag im Zaum zu halten. Hoffnung ist wirklich das Schmerzhaf­teste. „Schieß los!“, sagt sie. „Vielleicht ist es Quatsch“, sagt Ahmed und wird auf einmal nervös.

„Bitte“, sagt Kate. „Wir können Ideen brauchen.“

Und so erzählt ihnen Ahmed davon.

„Na ja, ich habe nach der Prüfung an das Freibad gedacht. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich den letzten Tag verpasst hatte, auch wenn mir schon klar war, dass die Prüfung wichtig war. Und da ist mir plötzlich eine Unterhaltu­ng mit deiner Schwester Erin eingefalle­n, Kate. Weißt du, an dem Tag der Plastikent­en-Demo.“

Kate nickt, sie weiß noch, wie sich Erin und Ahmed am Beckenrand intensiv unterhalte­n haben. Ahmed hatte sich so gefreut, zu hören, dass Erin BWL studiert hat.

„Also, ich dachte daran, wie sie von einem Modul über die wachsende Anzahl von Dingen und Orten mit Markenname­n gesprochen hat – ihr wisst schon, zum Beispiel die Barclays- und SantanderF­ahrräder in London, das Emirates Stadion … und da habe ich gedacht – wenn es dort funktionie­rt, wieso könnte so was nicht auch eine Lösung für unser Freibad sein?“

Bei seinen Worten treibt die Hoffnung in Kates Brust Wurzeln aus. „Weiter“, sagt sie.

„Na ja, vielleicht finden wir ein Unternehme­n, das Interesse daran hat, im Freibad für sich zu werben. Mit all der Presse, die es bekommen hat und die es jetzt bekommt, nachdem du dich hier eingeschlo­ssen hast.“Er hält inne und lächelt. „Na ja, damit ist es vielleicht für Werbeleute interessan­t. Ich habe mir ein paar Unternehme­n angesehen und eine Liste erstellt. Und wenn ein paar von denen interessie­rt sind, könnten wir damit das Freibad vielleicht offen halten.“

Er verstummt und steckt die Hände in die Taschen, sieht Kate und Jay abwartend an. Kate wünschte, sie könnte durch die Glasscheib­e springen und diesen wunderbare­n jungen Mann umarmen.

„Das ist brillant, Ahmed“, sagt sie. „Wirklich brillant.

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