Die Haltung verändern
Zwei Projekte, die kürzlich mit einem Award des Fonds National de la Recherche ausgezeichnet wurden, wollen zum Nachdenken anregen
Die Kinder sitzen auf dem Boden und schauen zu den beiden Erzieherinnen. Diese erzählen die Geschichte des kleinen Hasen mit dem großen Wehwehchen. „Firwat huet den Hues e Bobbo?“, fragt eine der Erzieherinnen in die Runde. „Parce qu’il est tombé“, ruft eines der Kinder. Diese alltägliche Szene, die sich in einer der vielen Einrichtungen in Luxemburg abgespielt haben könnte, entstammt aus einem Video des Projektes „MuLiPEC“, das von Claudine Kirsch von der Universität Luxemburg geleitet wurde. Von 2016 bis 2020 arbeitete sie mit Simone Mortini und anderen Mitgliedern des Teams daran – und wurden vor Kurzem mit dem FNR-Award „Outstanding Research-Driven Innovation“ausgezeichnet.
„Für mich ist es eine große Wertschätzung für das, was ich bisher gemacht habe. Mit Mehrsprachigkeit arbeite ich seit 30 Jahren und es ist schön, dass ich dafür ausgezeichnet werde“, so die Wissenschaftlerin. „Wir haben viele Monate damit verbracht, diese Videos zu entwickeln. Es ist immer wieder ein Kampf für mehr Chancengleichheit und für die Wertschätzung aller Familiensprachen der Kinder. Dafür einen Award zu bekommen zeigt auch, dass das Interesse am Thema da ist“, erklärt Simone Mortini, die dem Team von Claudine Kirsch angehörte und mittlerweile beim Service National de la Jeunesse (SNJ)
Mit dem FNR-Award wird herausragende Forschung prämiert. Die beiden vorgestellten Projekte kommen aus dem Bereich der „soft sciences“, also der Sozial- und Geisteswissenschaften. für mehrsprachige Erziehung zuständig ist.
Sich für Vielfalt öffnen
Für Claudine Kirsch gehört Mehrsprachigkeit zu ihrer Biografie. Sie war selbst Lehrerin und hat auf Luxemburgisch, Deutsch und Französisch unterrichtet. Zudem hat sie in England an einer Universität unter anderem in der Lehrerausbildung gearbeitet. Ihre Kinder wachsen mehrsprachig auf. Doch, so betont die Wissenschaftlerin, Mehrsprachigkeit sei nicht gleich Mehrsprachigkeit. „Kinder mit Migrationshintergrund
und niedrigem sozioökonomischen Status müssen ihre Familiensprache oft zu Hause ablegen, bevor sie zur Schule kommen.“
Eine Öffnung der Einrichtungen für alle Familiensprachen der Kinder – das wollen Claudine Kirsch, Simone Mortini und die anderen Teammitglieder erreichen. Dazu haben sie in Kindergärten, Crèches und Maisons Relais Videos produziert, die Ansätze mehrsprachiger Pädagogik zeigen. Für das MuLiPEC-Projekt haben die Forscherinnen ein Jahr lang mit sieben Personen gearbeitet. „Am Anfang
hatten sie eher monolinguale Ideologien. Sie waren stark aufs Sprachentrennen getrimmt. In unserer Fortbildung haben wir dann sehr viel darüber gesprochen, was Mehrsprachigkeit ist, was daran wichtig ist, welche Haltung man dazu haben sollte und welche Strategien es gibt, um mit Kindern zu interagieren.“
Ein wichtiges Konzept in diesem Zusammenhang: Translanguaging. Dabei geht es darum, dass mehrsprachige Kinder ihr ganzes Repertoire zum Kommunizieren nutzen. Ein Jahr lang arbeiteten die Forscher mit den Erziehern und Lehrerinnen an der Umsetzung dieses Konzeptes. Heraus kamen verschiedene Videos, die zumindest eine „promising practice“zeigen, wie Simone Mortini erklärt. „Sie sollen inspirieren, aber natürlich muss jeder schauen, was in der eigenen Einrichtung umgesetzt werden kann.“Die Filme werden nun in der Aus- und Fortbildung genutzt – sowohl an der Universität als auch bei den Fortbildungen der pädagogischen Referenten des SNJ, die für die Umsetzung der mehrsprachigen Erziehung in den Crèches zuständig sind. Diese ist seit 2017 in Luxemburg gesetzlich verankert.
Letztlich haben die Forscherinnen die Videos auch auf Konferenzen außerhalb des Großherzogtums gezeigt. „Wir sind mit solchen Praktiken, wenn sie gut umgesetzt sind, Modell für andere Länder. Und da ist es schön zu sehen, dass sehr viele Forschende sich die Videos angeschaut haben, um in ihren Ländern Ähnliches umzusetzen“, so Simone Mortini.
Es gehe am Ende vor allem darum, die Vielfalt der Kindersprachen wertzuschätzen und zu nutzen, wie Claudine Kirsch erklärt. „Damit Kinder lernen, müssen sie ihr sprachliches und nicht-sprachliches Repertoire einsetzen können. Wir möchten Lehrpersonen und Erzieher unterstützen, ihre Haltungen zu überdenken und neue Methoden zu erwerben.“Denn mit Sprachen sei immer auch Macht verbunden. „Wenn ich ein Kind mit Migrationshintergrund und niedrigem sozioökonomischem Status bin und in die Grundschule komme, dann ist es wichtig, dass dort eine Lehrperson ist, die mich da abholt, wo ich bin und versucht, mir mit meiner Sprache zu helfen.“Sprachen seien immer mit denken verbunden „und wenn ich die Kinder zum Denken, Kommunizieren und Lernen anspornen möchte, muss ich ihnen die Möglichkeit geben, das in einer Sprache zu tun, die ich als Lehrer vielleicht nicht verstehe. Da muss man auch mal loslassen“, ist sich Claudine Kirsch sicher.
Manchmal muss man lange an etwas arbeiten, bis es ausgereift ist. Claudine Kirsch
Mehrsprachigkeit wertschätzen
Für die beiden Forscherinnen geht es aber um mehr als die sprachliche Ebene. „Es ist eine Einstellung, die für eine ganze Gesellschaft wichtig ist. Es geht um Wertschätzen und Leben von Diversität. Wenn das eine Grundeinstellung in der Gesellschaft wäre, würde das helfen“, so Simone Mortini. „In dem Sinne sind wir noch nicht fertig.“In Claudine Kirschs neu
em Projekt COMPARE (collaboration with parents and multiliteracies in early childhood), welches vom SNJ mitfinanziert wird, sollen nun neue Filme entwickelt werden, in denen auch die Eltern eine wichtige Rolle spielen.
Dass sie auf einem guten Weg sind, zeigen auch die Rückmeldungen, die das Team bisher bekommen hat. Sowohl Experten als auch die Lehrpersonen und Erzieher und letztlich auch Kinder und Eltern sind von der Herangehensweise begeistert. „Mein Doktorat beschäftigt sich mit den Kindern, wie sie die Zeit unserer Arbeit und die mehrsprachigen Praktiken erlebt und wie sie trotz Präsenz vieler Sprachen auch Luxemburgisch gelernt haben. Wir wollen zeigen, wie Kinder aufblühen, wenn sie in einem Setting sind, wo ihre Sprache wertgeschätzt wird. Ihre Gesichter zeigen uns, dass wir das Richtige tun“, so Simone Mortini.
Kritikern mehrsprachiger Ansätze begegnen die Forscherinnen mit Gegenargumenten. „Gegner befürchten, dass Kinder die Schulsprache, oft auch Landessprache nicht lernen, wenn sie ihre Familiensprache in der Schule benutzen dürfen. Studien beweisen, dass das nicht so ist. Es geht aber nicht nur um Sprache, sondern auch um Identität. Müssen Kinder ihre Sprache zu Hause lassen, dann hat das natürlich auch einen Effekt auf ihre Identität und die Entwicklung ihrer Persönlichkeit“, so Claudine Kirsch. Die erste Sprache müsse solide sein, damit sich weitere darauf aufbauen könnten.
Anreiz zum Weitermachen
Carole Blond-Hanten vom Luxembourg Institute of Socio-Economic Research (LISER) wurde ebenfalls mit einem FNR-Award ausgezeichnet – im Bereich „Outstanding Promotion of Science to the Public“. Auch in ihrem Projekt geht es um die Wertschätzung von Diversität und Vielfalt. Die Wissenschaftlerin und ihr Team haben das „Gender Game“(GG) entwickelt, ein Spiel, mit dem Kinder, Jugendliche, aber auch Erwachsene etwas über Geschlechterstereotypen und Forschung lernen. Es handelt sich dabei um ein riesiges Brettspiel, bei dem die Spieler Fragen zu diesen Stereotypen beantworten. Dann schauen die Wissenschaftler gemeinsam mit den Teilnehmern, ob ihre Antworten mit der Forschung übereinstimmen.
Dass sie dafür nun mit einem FNR-Award ausgezeichnet wurde, bedeutet Carole Blond-Hanten viel. „Es ist eine Anerkennung für meine Arbeit – eine Anerkennung für die Arbeit, die wir mit dem GG seit den Researchers‘ Days 2016 geleistet haben und zugleich ein Anreiz zum Weitermachen.“
Die Gleichheit zwischen Frauen und Männern stand schon immer im Fokus der Forscherin. „Als ich studierte, in den 1990er-Jahren, gab es leider noch keine Gender Studies, jedenfalls nicht auf der Universität, die ich besuchte. Ich kann mich aber noch erinnern, dass einer von meinen Professoren mich mit kanadischen feministischen Soziologinnen verglichen hat“, erinnert sie sich.
Können Väter schlechter Mathe? Nach dem Studium hat Carole Blond-Hanten nicht sofort in der Forschung gearbeitet, sondern war zunächst als Gleichstellungsbeauftragte einer Gemeinde beschäftigt. Aus diesem Interesse entstand letztlich auch das GG. Bei den Researcher‘s Days 2014 waren die Wissenschaftlerin und ihre Kollegen mit einem „Science Café“präsent, bei dem sie sich mit Jugendlichen über Geschlechterstereotypen ausgetauscht haben. „Der Austausch war so gut, dass wir überlegt haben, über welchen Weg wir Kinder und Jugendliche erreichen könnten, um gemeinsam Genderstereotypen abzubauen. Das Spiel bietet den idealen Rahmen, in dem wir ungezwungen interagieren können – und ermöglicht, das Publikum mit wissenschaftlichem Denken vertraut zu machen.“
Gespielt wird in vier Mannschaften. Auf den Feldern muss die jeweilige Gruppe eine Frage aus den Bereichen Wissen, Arbeit, Macht und Gesellschaft beantworten. Entspricht die Antwort den wissenschaftlichen Resultaten, bekommt die Mannschaft einen Punkt. Wer als erstes die Fragen in den vier Bereichen richtig beantwortet hat, gewinnt. „Der Spielverlauf ist ganz einfach – und das mit Absicht. Denn der Schwerpunkt liegt auf der Interaktion. Darin werden Geschlechterstereotypen hinterfragt und Methoden aus den Sozialwissenschaften erklärt“, so die Forscherin.
Eine der Fragen lautet etwa: „Wer hilft den Kindern zu Hause am meisten bei den Hausaufgaben: die Mütter oder die Väter?“Die meisten Kinder seien sich schnell einig, dass die Mütter mehr helfen – diese Antwort stimme auch mit den Ergebnissen aus der Wissenschaft überein. „Interessant wird dieser Fakt in dem Moment, in dem wir uns zusammen mit den Kindern damit auseinandersetzen und Gesellschaftsmodelle hinterfragen.“Die Forscher fragen also etwa, wieso sich eher Mütter als Väter um die Hausaufgaben kümmerten. „Wenn sie dann antworten, ,Weil sie es besser können‘, fragen wir, ob die Väter nicht so gut rechnen können, was die Kinder dann oft mit ,Nein, das können die Väter auch gut, aber die Mütter können sich besser um die Kinder kümmern‘ beantworten.“
Daraufhin wollen die Forscher dann wissen, wo die Mütter das gelernt haben, worauf die Kinder häufig antworten, dass sie das können, weil sie Frauen seien. „Man sieht hier, wie man im Gespräch schnell auf die Geschlechterstereotypen stößt und wie diese schon in der Wahrnehmung verankert sind. In unserem Beispiel meldete sich auch ein Kind und sagte ,Bei uns macht mein Vater die Hausaufgaben mit uns.‘ Daran konnten wir dann mit den Kindern überlegen, dass es auch Väter gibt, die sich gut um die Kinder kümmern können – und anhand dieses Beispiels hinterfragen, wieso wir trotzdem denken, dass Mütter das besser können.“
Für Carole Blond-Hanten ist es wichtig, dass die Kinder auch die wissenschaftlichen Methoden verstehen, die hinter den Forschungsergebnissen stecken. „Wir wollen ihnen vermitteln, dass sie ihre Meinung auf Fakten basierend bilden sollen. Besonders bei Geschlechterstereotypen ist der Meinungsbildungsprozess wichtig.
Im Prinzip, so Carole BlondHanten, ließe sich das Spiel in angepasster Form auch auf andere Bereiche – etwa Stereotype in der Beziehung zwischen Arm und Reich oder Jung und Alt anwenden. „Dann müsste man aber genau überlegen, welche Felder man abdecken möchte, was das Ziel der Interaktion mit dem Publikum ist und welche Rolle den wissenschaftlichen Hintergründen zugeordnet wird.“
Bisher kam das GG bei vielen verschiedenen Gelegenheiten zum
Einsatz: bei den Researcher‘s Days, dem Science Festival, dem Internationalen Frauentag oder dem Diversity Day. Daneben wurde es in Gemeinden, Babysitterformationen und sogar an der Luxemburger Börse im Rahmen eines internen Workshops eingesetzt. Mit Unterstützung des FNR waren die Forscher des LISER von 2019 bis 2020 außerdem in 40 Maisons Relais und Jugendhäusern unterwegs und haben dort mit rund 500 Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gespielt.
Was Carole Blond-Hanten besonders gut gefällt: Die Dynamik ist in jeder Gruppe anders. „Es ist immer interessant, egal, mit wem man spielt. Gerade bei Kindern kommen häufig witzige Antworten, weil sie sehr ehrlich sind in ihrer Einschätzung.“Man merke aber gerade bei den Jüngeren, dass Stereotype schon präsent seien – und bei Erwachsenen seien sie dann verfestigt. „Die Kinder wiederholen eben, was sie bei den Erwachsenen sehen.“
Wie auch das Projekt des Teams rund um Claudine Kirsch, ist das GG noch lange nicht abgeschlossen. „Wir haben die Gelegenheit genutzt, beim Spielen parallel ein Experiment mit den Kindern und Jugendlichen durchzuführen. Anhand von Fragebögen haben wir Daten darüber erhoben, welchen Einfluss das GG hat.“Dazu wurde das Wissen der Kinder vor und nach dem Spiel abgefragt. Die erhobenen Daten fließen nun in ein neues Projekt ein, das die Forscherinnen und Forscher vom LISER zusammen mit ihren Kollegen vom Luxembourg Institute of Science and Technology (LIST) beim FNR einreichen wollen. „Wir wollen das GG einsetzen, um auf innovative Art neue wissenschaftliche Erkenntnisse über Geschlechterstereotypen zu gewinnen. Der Aspekt ,public outreach‘ bleibt weiterhin ein Schlüsselelement, ganz nach dem Motto ,Wissenschaft für Menschen mit den Menschen‘.“
Wir wollen den Kindern vermitteln, dass sie ihre Meinung auf Fakten basierend bilden sollen. Carole Blond-Hanten
Die Gesichter der Kinder zeigen uns, dass wir das Richtige tun. Simone Mortini
Für Interessen einstehen
Hier schließt sich auch der Kreis zum Projekt von Claudine Kirsch und Simone Mortini. Die Wissenschaftlerinnen haben gleich mehrere Dinge gemeinsam. Sie kommen aus dem Bereich der „soft sciences“, genauer gesagt aus den Erziehungs- und Sozialwissenschaften. „Wir können damit zeigen, wie wichtig unsere Forschung ist und dass nicht immer nur Naturwissenschaften prämiert werden“, meint Simone Mortini. Und: „Wir sind alle Frauen, daher ist es auch eine schöne Message, Frauen zu motivieren in die Forschung zu kommen.“Daneben geht beiden Projekten eine lange Planungsund Umsetzungsphase voraus. Daraus folgt für Claudine Kirsch eine weitere wichtige Botschaft: „Es dauert, bis man Anerkennung bekommt.“Das möchte sie gerade auch jungen Forschenden mit auf den Weg geben: „Es ist nicht immer einfach. Manchmal muss man lange an etwas arbeiten, bis es ausgereift ist. Aber es lohnt sich. Beiß dich durch, halte durch und steh für das, was du machen möchtest!“