Der eigene Kopf
Die Sachsen wissen es gern am allerbesten – jetzt sind ihre Kliniken voll und ihr Land vor der Corona-Katastrophe
Glühwein ist aus. Also Glühwein vor Ort. Das Büdchen steht, das Holzpodest auch, hübsch eben, das Gefälle der Rathausstraße hinunter zum Klostermarkt perfekt ausgleichend, links und rechts Christbäume mit bunten Kugeln und funkelnden Lichtern, das dazu gehörende Ladengeschäft, an dem sich alles entlangzieht, warm erleuchtet. Bald wird es dämmern. Dann wäre es Zeit.
Wäre. Konjunktiv.
Die Wirklichkeit an diesem Donnerstag vor dem dritten Advent in Plauen in Sachsen ist radikal glühweinfrei. Das Büdchen ist zu, am Holz klebt ein Schild, dass seit 1. Dezember „die neue Allgemeinverfügung desVogtlandkreises zum Schutz vor dem Corona-Virus Sars-CoV-2“gilt. Kein Alkohol in der Öffentlichkeit. Und außerdem Ausgangsbeschränkung.
Möglichkeitsform.
„Den Freistaat zur Ruhe bringen“Neun Tage danach hat Sachsen eine Quote von 377 Covid-19-Infizierten pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen. Deutscher Rekord. Mit Abstand. Die Nachbarn kommen auf Inzidenzen von knapp 160 in Sachsen-Anhalt und 211 in Thüringen, Bayern bleibt knapp unter 200. Deutschlands Durchschnitt: 170. Der Vogtlandkreis, in dem Plauen als Große Kreisstadt liegt, zählt 243. Auf der Bundesländer-Grafik zieht die sächsische Kurve fast senkrecht nach oben. Deshalb hat Ministerpräsident Michael Kretschmer für den Montag nach dem dritten Advent den Hardcore-Lockdown beschlossen. Kitas, Schulen, Geschäfte – alles muss dicht machen. Vorerst bis 10. Januar.
„Wir müssen den Freistaat jetzt zur Ruhe bringen“, sagt Kretschmer am Montag nach dem zweiten Advent, was was fast ein bisschen poetisch klingt – und so, als traue er sich nicht, „harter Lockdown“zu sagen. Und dann gewährt er den Sachsen eine weitere Woche Unruhe.
„Titanic-Prinzip“sagt in Plauen drei Tage später Frank Heidan. Wenn einer weiß, wie Politik funktioniert in Sachsen – dann er. Er war im Stadtrat und später Landtagsabgeordneter, 15 Jahre lang, für die Regierungspartei aller Regierungsparteien in Dresden, die CDU. „Bei voller Fahrt“, sagt Heidan im schönsten Vogtländisch, „halten Sie’s ni auf.“Es wird nicht ganz klar, ob „es“das Virus ist – oder der sächsische Eigensinn.
Protestkundgebung für Freiheit
Als die zweite Welle noch eine Vision war, aber anderswo schon gefürchtet wurde, lockerte die schwarz-rot-grüne Landesregierung die Regeln. Als sich die Welle dann sichtbar aufzutürmen begann, predigte man in Dresden Eigenverantwortung. Eher selten wird die so verstanden wie 200 Kilometer von Plauen entfernt Richtung Nordosten. Dort steht an der Bundesstraße 96, nicht weit von Bautzen entfernt, allsonntäglich der Protest. Er schwenkt Fahnen –
Offen – und zu: Ganz ohne Weihnachtsbudenzauber will Plauen einfach nicht durch den Advent kommen (oben) – das Theater indes, das im Januar wieder Publikum haben wollte, schickt sich wegen des HardcoreLockdown selbst in Spielbetriebspause bis Ende März.
Sachsen, Russland, Deutsches Kaiserreich –, er ist für Freiheit, ohne dass heraus wäre wovon und wofür. Er ist gegen Corona-Regeln, wer auch immer sie verfügt. Er ist klein. Aber so, wie Kretschmer und seine Koalitionäre sich das mit der gewissenhaften Souveränität der Sachsen vorstellen – so hält es der große Rest auch nicht.
„KEINE Kausalitäten“
Drei Tage vor dem Lockdown belegt Sachsen sechs der acht Spitzenplätze in der Inzidenz-Bundesliga. Bautzen, Görlitz, Sächsische Schweiz, Erzgebirge – politisch Versierten fällt auf: Es sind die Gegenden, wo bei den jüngsten Wahlen die AfD abgeräumt hat. In Jena in Thüringen beschäftigt sich am Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) ein Forscherteam mit der Frage, ob es da einen Zusammenhang gibt.
Am Nikolaustag schickt IDZChef Matthias Quint Überlegungen dazu in 15 Tweets in die Republik. Zusammengenommen sagt er, es seien Korrelationen erkennbar zwischen sozialen und politischen Orientierungen und dem Verhalten in Sachen Pandemie. Aber, schreibt Quint: „Korrelationen sind KEINE Kausalitäten. Hohe AfD-Ergebnisse und hohe Inzidenzwerte könnten gleichzeitig existieren, ohne dass eins das andere beeinflusst.“Man forsche weiter.
Im Erzgebirgskreis hat die Verwaltung schon Anfang Dezember geklagt, sie könnten „so viele Verschärfungen und Gesetze erlassen, wie wir wollen – wenn sich die Bürgerinnen und Bürger nicht daran halten, bringt das alles nichts“. In Plauen sagt jetzt Frank Heidan, der Erzgebirgler habe halt seinen eigenen Kopf. So wie der Vogtländer und der Oberbayer auch. So sei man halt auf dem Land. Heidan hält den Eigensinn für keine schlechte Eigenschaft. Grundsätzlich.
Speziell ist sie gerade ziemlich gefährlich. Heidan findet das auch. Nebenan, im sogenannten Musikwinkel, wo das Vogtland wie eine Landzunge nach Tschechien ragt, wird der Christbaumverkauf an den Wochenenden zum Weihnachtsmarkt light. Mit Glühwein. Für den Sonntag macht die zuständige Behörde eine Ausnahme. Und der Juniorchef der „Weihnachtswelt“sagt dem Berliner „Tagesspiegel“, die Politik mache seiner Familie das Geschäft kaputt. Nicht das Virus. Die Politik.
In Plauen, 65 000-EinwohnerStadt, beginnt das Geschäft an Tag drei vor dem Lockdown noch einmal richtig zu brummen. Nichts zu spüren von der Ruhe, die Ministerpräsident Kretschmer beschwört. Wer sonst mit den Weihnachtseinkäufen noch gewartet hätte – der geht eben jetzt. Die Drehtüren zur „Stadt-Galerie“, der zentralen Shopping-Mall, stehen ab mittags nicht ein Sekündchen still. Und auch hier gibt es Wellen – läuft ein Laden leer, schwappt der nächste voll. Allein der Schnäppchen-Grossist hat Zählerinnen vor die Eingänge gestellt. Bei 120 ist
Schluss. Drinnen gibt das trotzdem da und dort ein ziemliches Gedränge. Und der Mund-NasenSchutz bedeckt nicht selten allenfalls noch die Oberlippe. Die Desinfektionsmittelspender überall in der Mall werden sowieso ignoriert.
Muss es statt Eigen- vielleicht treffender Leichtsinn heißen? Man kann Passanten gern fragen. Aber man kriegt keine Antwort. Wir sind nicht schuld, sagen die Vogtländer. Wenn sie überhaupt etwas sagen. Und dass die Zahlen gleich nebenan, im bayrischen Hof, ja noch viel höher seien. Das stimmt. Aber was hilft das gegen das Sterben in Plauen und um Plauen herum?
Simulierte Weihnachtsatmosphäre An Tag drei vor dem Lockdown meldet das Statistische Bundesamt eine massive sogenannte Übersterblichkeit für Sachsen. 27 Prozent über dem Bundesdurchschnitt in der zweiten Novemberwoche. Auch im Vogtland sind die Krankenhäuser und die Intensivstationen voll mit Covid-19-Patienten. Eine Ärztin hat vor ein paar Tagen dem „Tagesspiegel“erzählt, die Triage – die Entscheidung darüber, wer leben darf und wer sterben muss – sei nicht mehr weit weg.
Trotzdem, sagen sie in Plauen. Und dass Viren und Bazillen eben zum Leben. gehörten. Und der harte Lockdown ab Montag schon übertrieben sei. Nicht alle reden so. Aber auch nicht wenige.
Sprühfein senkt sich am Nachmittag noch vor der Dunkelheit Nebel über die Stadt. Sinkt auf das geschlossene Glühwein-Büdchen herab. Und auf die Buden am Klostermarkt, die stur Weihnachtsatmosphäre simulieren. Auf die Schlange vorm Stollenbäcker und die Kauflustigen beim erzgebirgischen Kunsthandwerk. Nur scheinen die Plauener nichts davon zu merken. Oder nichts merken zu wollen. Mag sein, genau so ist es auch mit dem Virus.
Muss es statt Eigen- vielleicht treffender Leichtsinn heißen?