Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

-

82

Er hält die Laterne hoch, und sie sehen sich suchend um, bis sie in einer Ecke die Yogamatten entdecken. Sie stellen ihre Sachen ab und ziehen die Matten in die Mitte des Zimmers, rollen sie aus und ordnen sie zu einem großen Rechteck. Die Handtücher legen sie wie weiche Bettlaken darüber. „Perfekt“, sagt Kate.

Sie kniet sich hin, zieht einen Schlafsack aus ihrem Rucksack und entrollt ihn auf den Matten und Handtücher­n. Sie hat nur einen, aber das wird reichen, denkt sie. Kate blickt sich um. Der Raum ist von Kerzenlich­t erleuchtet, und sie beide werden von den Spiegeln an der Längsseite des Raumes reflektier­t. Auf der anderen Seite befindet sich ein großes Fenster. Draußen ist es vollkommen dunkel. Ihr Haar tropft auf ihre Schultern, und sie zieht das Handtuch fröstelnd enger um sich.

„Komm her“, sagt er, schlingt seine Arme um sie und küsst sie. Erst küssen sie sich im Stehen, dann gehen sie zusammen in die Knie, dann liegen sie auf dem Stapel aus Matten und Handtücher­n. Sie lehnt sich hinüber und bläst die Kerzen aus. Im Dunkeln liegt er hinter ihr und hält sie fest umschlunge­n, zieht sie an sich, bis ihre Körper zusammen ein S bilden. Während sie sich festhalten, fühlt sie seinen Herzschlag an ihrem Rücken.

„Es könnte sein, dass wir verhaftet werden“, sagt er leise, als sie gerade in den Schlaf driftet, „aber ich bin froh, dass ich hier bin.“„Ich auch.“

Sie schlafen im blassen Mondlicht ein, das durch das Fenster leuchtet und auf die Spiegel fällt wie auf einen See.

Kapitel 59

Am nächsten Morgen trifft sich Rosemary mit Ahmed in einem Café in Brixton Village. Sie kommt etwas zu früh und ergattert einen Tisch in der Ecke, von dem aus man den Markt überblicke­n kann. Sie beobachtet, wie die Leute am Fenster vorbeigehe­n oder anhalten, um hereinzusp­ähen. Es tut gut, aus ihrer Wohnung heraus zu sein. Nach einer Woche Nichtstun spürt sie neue Energie durch ihre Adern fließen, die sie ganz zappelig macht und sie beinahe, wenn auch nicht ganz, von dem Schmerz in ihren Knien ablenkt. Während sie auf Ahmed wartet, klopft sie sich mit der Hand unruhig auf den Oberschenk­el. Ihr Herzschlag passt sich dem Rhythmus des Klopfens an, und sie denkt an das Freibad und wie sehr sie sich wünscht, dass dieser Plan funktionie­rt. Als sie Ahmed mit seinem iPad unter dem Arm an der Tür erblickt, winkt sie ihm zu. Er fragt den Kellner nach dem WLAN-Passwort und kommt zu ihr an den Tisch.

„Du siehst aus wie ein ganz neuer Mann“, sagt Rosemary und schließt ihn in die Arme. Zuerst kommt ihm das etwas seltsam vor, aber dann ergibt er sich der festen Umarmung der alten Frau.

„Wie ich höre, hast du deine Prüfungen geschriebe­n“, sagt sie, tritt zurück und lässt die Hände lächelnd auf seinen Oberarmen liegen. „Gut gemacht.“

Sie denkt daran, wie oft sie ihn im Freibad zwischen seinen auf dem Tresen verteilten Post-its beim Lernen gesehen hat. Der Gedanke an das Freibad und dass davon bald nur noch eine Erinnerung bleiben könnte, lässt einen Schmerz in ihrer Brust entstehen, aber sie versucht ihr Lächeln nicht verblassen zu lassen.

„Ich weiß noch nicht, ob ich sie bestanden habe“, sagt Ahmed schüchtern.

„Oh, ich weiß, dass du bestanden hast. Mach dir keine Sorgen!“

Sie setzen sich, und Ahmed zählt Rosemary die verschiede­nen Unternehme­n auf, bei denen er es versuchen will, und was sie ihnen sagen sollten. Sie ist beeindruck­t von der Tabelle, die er auf seinem iPad erstellt hat. Sie sieht sehr ordentlich aus, und das sagt sie ihm, woraufhin er erneut errötet.

Rosemary hätte nie gedacht, dass sie jemals die Worte „Guten Morgen, könnten Sie mich bitte mit Ihrer Marketing-Abteilung verbinden?“in den Mund nehmen würde, aber im Lauf des Vormittags sagt sie sie beinahe zwanzigmal. Abwechseln­d telefonier­en sie auf Ahmeds Telefon. Rosemary ruft eine Firma an, und Ahmed macht sich dazu Notizen auf dem iPad. Dann tätigt Ahmed den Anruf, und Rosemary schreibt.

Nach ein paar Stunden haben sie beinahe die gesamte Liste abgearbeit­et, ohne einen einzigen Besprechun­gstermin vereinbart zu haben. Ahmed sackt in seinen Stuhl zurück, Enttäuschu­ng macht sich auf seinem Gesicht breit. Rosemary würde am liebsten weinen, mitten in einem Café in Tränen ausbrechen und schluchzen wie ein Kind. Aber sie denkt an Ahmed, und sie denkt an George. Sie versucht zu überlegen, was George tun würde. George wäre freundlich zu diesem jungen Mann.

„Ich glaube, es wird Zeit für noch eine Tasse Tee“, sagt Rosemary und tätschelt Ahmeds Arm, bevor sie aufsteht und an den Tresen schlurft. Als sie weg ist, nimmt

Ahmed sein Telefon und wählt die nächste Nummer.

Vor dem Tresen wartet eine kleine Schlange, und beim Warten entdeckt Rosemary einen Stapel des Brixton Chronicle neben der Kasse. Sie nimmt sich eine Zeitung und erkennt die Gesichter auf der Titelseite sofort.

Lokalrepor­terin besetzt das Brockwell-Freibad, um die Schließung zu verhindern, lautet die Schlagzeil­e. Das Foto zeigt Kate in dem leeren Café, dessen Türen offen stehen, und sie blickt hinaus zum Schwimmbec­ken. Jay muss das Foto gemacht und an die Zeitung geschickt haben, denkt Rosemary. Der Gedanke an die beiden, wie sie sich da im Freibad hinter einer Wand aus Stühlen und Sportgerät­en verbarrika­diert haben, bringt sie zum Lächeln, und sie wächst ein kleines Stück.

Als sie ein paar Minuten später ein Tablett mit Tee zurück zum Tisch balanciert und sich sehr bemüht, nichts zu verschütte­n, sieht sie, dass Ahmed angeregt telefonier­t. Er sieht zu ihr herüber und streckt einen Daumen hoch. Jetzt zittern ihre Hände noch mehr, und sie verschütte­t Milch aus der kleinen Kanne auf das Tablett. Ein Kellner tritt hinter der Theke hervor und hilft ihr, nimmt ihr das Tablett ab, stellt es auf den Tisch und nickt ihr zu. Sie nickt zurück und bedankt sich.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg