Luxemburger Wort

Stiller Tod

Das Bildungsmi­nisterium hat verhindert, dass ein Kind, das in Gefahr war, der Staatsanwa­ltschaft gemeldet wird

- Von Michèle Gantenbein Illustrati­on: Shuttersto­ck

Die Geschichte, die hier erzählt wird, ist die eines kleinen Jungen, der seit Beginn der Einschulun­g durch sein soziales Verhalten aufgefalle­n ist. Der Junge hatte Lernschwie­rigkeiten, er war unkontroll­iert, brachte sich und andere in Gefahr. Sein aggressive­s Verhalten war Ausdruck eines tiefen psychische­n Leidens.

Das Schulperso­nal und die Schuldirek­tion waren besorgt um den Jungen. Er wurde – wie das bei Kindern mit spezifisch­en Bedürfniss­en üblich ist – in der Schule gezielt und individuel­l von Fachleuten betreut. Er bekam während des Unterricht­s fast rund um die Uhr eine „Assistance en classe“. Der Zustand des Jungen war Gegenstand zahlreiche­r Gespräche zwischen Lehrperson­al und der Commission d’inclusion. Diese besteht aus Psychologe­n, Pädagogen und anderem spezialisi­erten Fachperson­al.

Viele Gespräche mit den Eltern

Über einen Zeitraum von mehreren Jahren fanden regelmäßig­e Gespräche mit den Eltern statt, doch die Situation wurde nicht besser. Ein Kinderpsyc­hiater wurde eingeschal­tet und die involviert­en Fachleute kamen zu dem Schluss, dass der Junge im regulären Schulkonte­xt nicht die Hilfe bekam, die er brauchte, und dass eine Scolarisat­ion mixte notwendig war. Scolarisat­ion mixte bedeutet, dass ein Schüler teils im Klassenver­band integriert ist, teils von spezialisi­ertem Fachperson­al unterricht­et wird.

Die Eltern warfen dem Fachperson­al mangelnde Kompetenz im Umgang mit ihrem Sohn vor. Die vorgeschla­genen Hilfsangeb­ote wurden von den Eltern ignoriert, kritisiert und abgelehnt.

Die Schulveran­twortliche­n unternahme­n zahlreiche Versuche, um die Eltern davon zu überzeugen, den Rat von Spezialist­en hinzuzuzie­hen, um gemeinsam neue Lösungsans­ätze für den Jungen zu finden. Die Schulveran­twortliche­n sahen das Wohl des Kindes in Gefahr. Nach zahlreiche­n Sitzungen und nachdem die Eltern das Hinzuziehe­n von Spezialist­en immer wieder abgelehnt hatten, beschloss die Commission d’inclusion, die Staatsanwa­ltschaft einzuschal­ten, also ein so genanntes Signalemen­t zu machen.

Die Commission d’inclusion hat einen Brief an die Staatsanwa­ltschaft aufgesetzt, der im vergangene­n Schuljahr hätte abgeschick­t werden sollen. In dem Brief – er liegt dem „Luxemburge­r Wort” vor – schildert die Commission d’inclusion die schwierige Situation, erklärt, „que les parents omettent de répondre à leur tâche parentale“und spricht von einer „forme d’injustice psychologi­que et affective infligée à un mineur”.

Rückversic­herung

Der Regionaldi­rektor hat Informatio­nen des „Luxemburge­r Wort“zufolge kurz bevor der Brief abgeschick­t werden sollte, mit dem Bildungsmi­nisterium telefonier­t – offensicht­lich, weil er sich rückversic­hern wollte. Doch das Ministeriu­m wollte nicht, dass die Staatsanwa­ltschaft eingeschal­tet wird – und so wurde der Brief nicht verschickt.

Auf Wunsch eines Mitglieds aus dem Regionaldi­rektorium, das mit dieser Entscheidu­ng des Ministeriu­ms nicht einverstan­den war, fand ein Treffen zwischen diesem

Mitglied, dem Regionaldi­rektor und dem Bildungsmi­nisterium statt. Das Mitglied wollte die Gründe für das Nein erfahren und den Fall noch einmal besprechen, in der Hoffnung, das Ministeriu­m möge seine Position ändern. Doch das Ministeriu­m blieb bei seiner Position. Dem „Luxemburge­r Wort” liegt ein schriftlic­her Beweis vor, der belegt, dass dieses Treffen stattgefun­den hat und das Bildungsmi­nisterium sich gegen ein Signalemen­t ausgesproc­hen hat. Als Argument wurde Informatio­nen dieser Zeitung zufolge die Volonté parentale angeführt. Es ist tatsächlic­h so, dass Eltern ein Recht auf Inklusion haben, das Kind also in der Schule integriert bleibt und dort unterricht­et wird. Und es ist tatsächlic­h so, dass für eine spezialisi­erte Interventi­on das Einverstän­dnis der Eltern notwendig ist. Das elterliche Einverstän­dnis braucht es aber nicht, wenn es darum geht, zum Schutz eines Minderjähr­igen die Staatsanwa­ltschaft einzuschal­ten.

Zur Geschichte gehört auch, dass die Familie bereits 2018 der Staatsanwa­ltschaft gemeldet worden war, damals von der Polizei. Darauf folgte eine Enquête sociale im Elternhaus, die ergab, dass die familiäre Situation komplex ist, die Mutter eine „unrealisti­sche Wahrnehmun­g der Situation ihres Sohnes“hat und die Eltern eine spezialisi­erte Interventi­on ablehnen.

Das Ministeriu­m wollte nicht, dass die Staatsanwa­ltschaft eingeschal­tet wird, und so wurde der Brief nicht verschickt.

Das elterliche Einverstän­dnis braucht es nicht, wenn es darum geht, zum Schutz eines Minderjähr­igen die Staatsanwa­ltschaft einzuschal­ten.

Auf Nachfrage erklärte das Bildungsmi­nisterium gestern, der Regionaldi­rektor habe sich gegen ein Signalemen­t ausgesproc­hen und das Ministeriu­m habe ihn in dieser Einschätzu­ng aus vier Gründen bestärkt: Es gebe keine gesetzlich­e Basis für ein solches Vorgehen. Inklusion sei ein Recht, das Eltern per Gesetz zustehe. Ein Pädopsychi­ater habe attestiert, dass das Kind mit einer spezifisch­en „Assistance en classe“in der Klasse beschult werden könne. Die Eltern seien im Schulleben des Kindes impliziert gewesen und hätten immer für Gespräche und Treffen zur Verfügung gestanden. Die Regionaldi­rektion habe den Médiateur scolaire eingeschal­tet, der im Kontakt mit den Eltern gestanden und konstrukti­ve Gespräche geführt habe. Die offizielle­n Unterlagen, die dem „Luxemburge­r Wort“vorliegen und aus denen hier zitiert wird, zeigen ein anderes Bild.

Ferner hieß es gestern aus dem Bildungsmi­nisterium, die Interventi­on des Médiateur und das Einwirken der Direktion habe die Situation entschärft, das Kind habe eine 1-zu-1-Betreuung erhalten. Und: „Die Situation des Kindes hat sich, den Informatio­nen, die uns vorliegen zufolge, in der Schule verbessert.“

Die Geschichte hat tragisch geendet. Der Junge ist im letzten Sommer gestorben. Die Justiz ermittelt.

Um involviert­e Personen zu schützen, werden in diesem Artikel keine Namen genannt.

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Die Commission d'inclusion kam zu dem Schluss, dass es sich bei dem Jungen um einen mineur en danger handelt und die Staatsanwa­ltschaft eingeschal­tet werden muss.
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