Stiller Tod
Das Bildungsministerium hat verhindert, dass ein Kind, das in Gefahr war, der Staatsanwaltschaft gemeldet wird
Die Geschichte, die hier erzählt wird, ist die eines kleinen Jungen, der seit Beginn der Einschulung durch sein soziales Verhalten aufgefallen ist. Der Junge hatte Lernschwierigkeiten, er war unkontrolliert, brachte sich und andere in Gefahr. Sein aggressives Verhalten war Ausdruck eines tiefen psychischen Leidens.
Das Schulpersonal und die Schuldirektion waren besorgt um den Jungen. Er wurde – wie das bei Kindern mit spezifischen Bedürfnissen üblich ist – in der Schule gezielt und individuell von Fachleuten betreut. Er bekam während des Unterrichts fast rund um die Uhr eine „Assistance en classe“. Der Zustand des Jungen war Gegenstand zahlreicher Gespräche zwischen Lehrpersonal und der Commission d’inclusion. Diese besteht aus Psychologen, Pädagogen und anderem spezialisierten Fachpersonal.
Viele Gespräche mit den Eltern
Über einen Zeitraum von mehreren Jahren fanden regelmäßige Gespräche mit den Eltern statt, doch die Situation wurde nicht besser. Ein Kinderpsychiater wurde eingeschaltet und die involvierten Fachleute kamen zu dem Schluss, dass der Junge im regulären Schulkontext nicht die Hilfe bekam, die er brauchte, und dass eine Scolarisation mixte notwendig war. Scolarisation mixte bedeutet, dass ein Schüler teils im Klassenverband integriert ist, teils von spezialisiertem Fachpersonal unterrichtet wird.
Die Eltern warfen dem Fachpersonal mangelnde Kompetenz im Umgang mit ihrem Sohn vor. Die vorgeschlagenen Hilfsangebote wurden von den Eltern ignoriert, kritisiert und abgelehnt.
Die Schulverantwortlichen unternahmen zahlreiche Versuche, um die Eltern davon zu überzeugen, den Rat von Spezialisten hinzuzuziehen, um gemeinsam neue Lösungsansätze für den Jungen zu finden. Die Schulverantwortlichen sahen das Wohl des Kindes in Gefahr. Nach zahlreichen Sitzungen und nachdem die Eltern das Hinzuziehen von Spezialisten immer wieder abgelehnt hatten, beschloss die Commission d’inclusion, die Staatsanwaltschaft einzuschalten, also ein so genanntes Signalement zu machen.
Die Commission d’inclusion hat einen Brief an die Staatsanwaltschaft aufgesetzt, der im vergangenen Schuljahr hätte abgeschickt werden sollen. In dem Brief – er liegt dem „Luxemburger Wort” vor – schildert die Commission d’inclusion die schwierige Situation, erklärt, „que les parents omettent de répondre à leur tâche parentale“und spricht von einer „forme d’injustice psychologique et affective infligée à un mineur”.
Rückversicherung
Der Regionaldirektor hat Informationen des „Luxemburger Wort“zufolge kurz bevor der Brief abgeschickt werden sollte, mit dem Bildungsministerium telefoniert – offensichtlich, weil er sich rückversichern wollte. Doch das Ministerium wollte nicht, dass die Staatsanwaltschaft eingeschaltet wird – und so wurde der Brief nicht verschickt.
Auf Wunsch eines Mitglieds aus dem Regionaldirektorium, das mit dieser Entscheidung des Ministeriums nicht einverstanden war, fand ein Treffen zwischen diesem
Mitglied, dem Regionaldirektor und dem Bildungsministerium statt. Das Mitglied wollte die Gründe für das Nein erfahren und den Fall noch einmal besprechen, in der Hoffnung, das Ministerium möge seine Position ändern. Doch das Ministerium blieb bei seiner Position. Dem „Luxemburger Wort” liegt ein schriftlicher Beweis vor, der belegt, dass dieses Treffen stattgefunden hat und das Bildungsministerium sich gegen ein Signalement ausgesprochen hat. Als Argument wurde Informationen dieser Zeitung zufolge die Volonté parentale angeführt. Es ist tatsächlich so, dass Eltern ein Recht auf Inklusion haben, das Kind also in der Schule integriert bleibt und dort unterrichtet wird. Und es ist tatsächlich so, dass für eine spezialisierte Intervention das Einverständnis der Eltern notwendig ist. Das elterliche Einverständnis braucht es aber nicht, wenn es darum geht, zum Schutz eines Minderjährigen die Staatsanwaltschaft einzuschalten.
Zur Geschichte gehört auch, dass die Familie bereits 2018 der Staatsanwaltschaft gemeldet worden war, damals von der Polizei. Darauf folgte eine Enquête sociale im Elternhaus, die ergab, dass die familiäre Situation komplex ist, die Mutter eine „unrealistische Wahrnehmung der Situation ihres Sohnes“hat und die Eltern eine spezialisierte Intervention ablehnen.
Das Ministerium wollte nicht, dass die Staatsanwaltschaft eingeschaltet wird, und so wurde der Brief nicht verschickt.
Das elterliche Einverständnis braucht es nicht, wenn es darum geht, zum Schutz eines Minderjährigen die Staatsanwaltschaft einzuschalten.
Auf Nachfrage erklärte das Bildungsministerium gestern, der Regionaldirektor habe sich gegen ein Signalement ausgesprochen und das Ministerium habe ihn in dieser Einschätzung aus vier Gründen bestärkt: Es gebe keine gesetzliche Basis für ein solches Vorgehen. Inklusion sei ein Recht, das Eltern per Gesetz zustehe. Ein Pädopsychiater habe attestiert, dass das Kind mit einer spezifischen „Assistance en classe“in der Klasse beschult werden könne. Die Eltern seien im Schulleben des Kindes impliziert gewesen und hätten immer für Gespräche und Treffen zur Verfügung gestanden. Die Regionaldirektion habe den Médiateur scolaire eingeschaltet, der im Kontakt mit den Eltern gestanden und konstruktive Gespräche geführt habe. Die offiziellen Unterlagen, die dem „Luxemburger Wort“vorliegen und aus denen hier zitiert wird, zeigen ein anderes Bild.
Ferner hieß es gestern aus dem Bildungsministerium, die Intervention des Médiateur und das Einwirken der Direktion habe die Situation entschärft, das Kind habe eine 1-zu-1-Betreuung erhalten. Und: „Die Situation des Kindes hat sich, den Informationen, die uns vorliegen zufolge, in der Schule verbessert.“
Die Geschichte hat tragisch geendet. Der Junge ist im letzten Sommer gestorben. Die Justiz ermittelt.
Um involvierte Personen zu schützen, werden in diesem Artikel keine Namen genannt.