Premier Conte unter Druck
Inmitten der Corona-Pandemie in Italien droht Ex-Premier Matteo Renzi mit dem Sturz der Regierung
In Rom werden in diesen Tagen Zitate des verstorbenen, siebenfachen ehemaligen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti ausgegraben. Zum Beispiel dieses: „Bei Regierungskrisen weiß man immer, wie sie beginnen, aber nie wie sie enden.“Oder dieses: „Wenn der Grund für eine Krise unklar ist, dann wird es ernst für die Regierung.“Der „Göttliche“beziehungsweise die „Sphinx“, wie der mit allen Wassern gewaschene Christdemokrat Andreotti von Freund und Feind ironisch-respektvoll genannt worden war, hatte in seiner langen politischen Karriere bei etlichen Regierungskrisen selber heimlich Regie geführt und wusste, wovon er sprach.
Wie die heutige Krise enden wird und wie ernst sie ist, wird man möglicherweise erst kurz vor oder nach Weihnachten wissen. Fest steht aber schon jetzt: Sie kommt völlig zur Unzeit. Italien befindet sich immer noch mitten in der zweiten Covid-Welle mit 500 bis 800 Toten pro Tag. Gleichzeitig wartet man in Brüssel immer ungeduldiger auf konkrete Angaben aus Rom, wie man die für Italien reservierten 209 Milliarden Euro aus dem EU-Wiederaufbau zu verwenden gedenkt. Die sagenhafte Summe – 85 Milliarden werden Italien geschenkt, 124 Milliarden fließen in Form von zinsgünstigen Darlehen – gilt als letzte Chance für das Land, dessen Wirtschaft seit Jahren stagniert und das mit 2,5 Billionen Euro in absoluten Zahlen den höchsten Schuldenberg aller EU-Länder und den dritthöchsten der Welt mit sich herumträgt.
Premier Giuseppe Conte hatte im Sommer, als sich die EU-Mitglieder auf ihren neuen Haushalt und den Recovery Fund verständigt hatten, noch euphorisch eine „Neuerfindung Italiens“und kräftiges Wachstum versprochen. Doch der in Aussicht gestellte Milliardensegen hat die Regierung nicht beflügelt, sondern gelähmt: Mehrere Expertenkommissionen und Task Forces haben zwar schöne Konzepte zur Digitalisierung und Modernisierung und für einen „Green Deal“erarbeitet, doch konkrete und vor allem bewilligungsfähige Projekte ist Rom bisher schuldig geblieben. Ein zentrales Problem bestand von Anfang an darin, dass das Parlament und die Parteien bei der Erarbeitung von Reformprojekten bisher nicht einbezogen worden sind. Conte wird vorgeworfen, wie ein Autokrat alles selber machen und entscheiden zu wollen.
Zerstrittene Koalition
Als Conte letzte Woche einmal mehr eine Task Force mit ihm selber an der Spitze durchsetzen wollte, ist dem früheren Premier Matteo Renzi der Geduldsfaden gerissen. „Wir haben uns nicht von Lega-Chef Salvini befreit, der 'volle Machtbefugnisse' für sich beansprucht hatte, um diese vollen Machtbefugnisse nun an Conte abzugeben“, erklärte Renzi im Senat. In einer gnadenlosen Abrechnung mit dem aktuellen Regierungschef erklärte der Führer des kleinsten Koalitionspartners, dass er seine Minister aus der Regierung zurückziehen werde, falls Conte seine Pläne mit der neuen Task Force nicht aufgebe.
Wie sehr Renzi mit seiner Brandrede den wunden Punkt getroffen hatte, zeigte sich an der Reaktion der beiden großen Parteien der Koalition, der Fünf-Sterne-Protestbewegung und dem sozialdemokratischen Partito Democratico (PD): Eine Reaktion blieb aus – niemand ging ans Rednerpult, um den parteilosen Conte zu verteidigen. Das Verhältnis unter den Regierungsparteien
in Rom ist inzwischen zerrüttet – die Koalitionspartner sind sich praktisch nur noch in ihrem Missmut gegen den Premier einig. Auch die „Grillini“, die den Rechtsprofessor vor zweieinhalb Jahren als „Anwalt des Volkes“auf den Schild gehoben hatten, würden Conte inzwischen am liebsten loswerden. Was Conte bisher gerettet hat, ist seine nach wie vor beachtliche Popularität in der Bevölkerung – sowie die Angst vor Neuwahlen, die bei einem Sturz der Regierung mit einiger Wahrscheinlichkeit fällig würden: Weil im September in einer Volksabstimmung die Verkleinerung des Parlaments um über einen Drittel der Sitze beschlossen wurde, müssten viele Abgeordnete und Senatoren um ihre Wiederwahl und damit um ihre Löhne und Privilegien fürchten.
Beobachter rechnen damit, dass die Angst vor dem Verlust der einträglichen Parlamentssessel am Ende auch den drohenden Sturz der Regierung abwenden wird – wenn auch derzeit niemand einen Cent darauf wetten würde. Das zentrale Problem – die politische Lähmung in Rom – bleibt aber so oder so ungelöst.
Damit droht Italien auch seine letzte und größte Chance zu verpassen, den Recovery Fund: Wegen der Unfähigkeit seiner Bürokraten, in Brüssel bewilligungsfähige Projekte einzureichen, hat das Land in den letzten Jahren jeweils nur 40 Prozent der für Italien reservierten EU-Strukturfonds tatsächlich beanspruchen können – dasselbe könnte mit den Milliarden aus dem Wiederaufbaufonds passieren. Das wäre tragisch – nicht nur für Italien, sondern auch für die EU, die sich mit dem Recovery Fund endlich einmal zu einem gewaltigen Akt der Solidarität hatte aufraffen können.