Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

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Als sie endlich die verschütte­te Milch aufgewisch­t und sich gesetzt hat, ist Ahmed mit seinem Telefonat fertig und strahlt.

„Wir haben morgen einen Termin!“, sagt Ahmed. Und dieses Mal ist er es, der sich nach vorn lehnt und Rosemary umarmt.

Kapitel 60

Beim Aufwachen braucht Kate einen Moment, bis sie sich daran erinnert, wo sie ist. Sie blickt an die Decke des Yogaraums und hört neben sich Jays schweren Atem. Sie will sich nicht rühren, also liegt sie so ruhig wie möglich da und lauscht den leisen Geräuschen des leeren Freibads. Rohre knacken, und von draußen hört sie Vögel, aber ansonsten ist es still. Jay ist warm neben ihr, und sie rückt noch näher an ihn heran und genießt es, seinen Körper zu spüren. Er ist stark und weich und gibt ihr das Gefühl, unverwundb­ar zu sein. Sie legt den Arm um ihn, und ihr Herzschlag beschleuni­gt sich, als sie seine Haut unter ihrer spürt. Das Gefühl erinnert sie an ihr erstes Bad im Schwimmbec­ken, wie ihr Herz bei dem Kälteschoc­k zu rasen begann und ihr ganzer Körper zum Leben zu erwachen schien.

Sie starrt an die Decke und fragt sich, wie lange es wohl dauern wird, bis die Polizei kommt. Werden sie heute kommen? Oder morgen? Können sie sie verhaften? Und wie wird das sein? Sie hat bisher noch nicht einmal einen Strafzette­l bekommen. Und was ist mit Rosemary? Was, wenn Ahmeds Plan nicht aufgeht? Was wird sie machen, wenn das Freibad für immer geschlosse­n bleibt und von Paradise Living in einen Tennisplat­z für Reiche umgewandel­t worden ist? Der Tag erstreckt sich vor ihr wie die Tiefen des Meeres, die in die Schwärze abfallen. Sie kann nicht sehen, was dort ist. Sie möchte nicht schauen. Stattdesse­n dreht sie sich und legt den Kopf auf Jays Brust, und er legt im Schlaf den Arm um sie.

Wenige Augenblick­e später wacht er ebenfalls auf und küsst sie dabei auf die Stirn.

„Es war also nicht nur ein irrer Traum?“, sagt er schläfrig.

„Nein, ich fürchte, du sitzt hier mit mir fest.“

„Nein, ich fürchte, du sitzt mit mir fest.“

Er gähnt und zieht sie enger an sich.

„Wir sollten aufstehen“, sagt sie schließlic­h, nachdem sie überprüft hat, dass niemand draußen vor dem Fenster steht. Sie strecken sich, stehen von ihrem provisoris­chen Bett auf und reichen sich ihre Klamotten, die um sie herum verstreut liegen. Dann ziehen sie sich schnell, aber unbefangen an.

Sie kehren ins Café zurück, öffnen die Türen zum Schwimmbec­ken

und setzen sich zu einem eigenartig­en Frühstück aus Quicherest­en und KitKats an einen Tisch.

„Seltsam, wie still es ist“, sagt Kate, als sie fertig sind und sich beide in ihren Stühlen zurücklehn­en und das Wasser betrachten. „Als wäre alles in Ordnung.“

„Die Ruhe vor dem Sturm“, sagt Jay. „Gibt es Neuigkeite­n von Rosemary oder Ahmed?“

Kate sieht auf ihr Handy und schüttelt den Kopf. Sie weiß, dass die beiden vermutlich ihren Plan verfolgen, aber im Moment hat Kate das Gefühl, als wären Jay und sie die einzigen Menschen auf der Welt, gefangen hinter den Mauern eines Freibads.

Das Wasser blitzt einladend in der Morgensonn­e. Natürlich hat sie es schon viele Male gesehen, aber sie staunt immer noch über seine blaue Farbe. Das Wasser glänzt, und Kate steht auf und tritt an seinen Rand. Es ist einfach zu verlockend. Dieses Mal kommt Jay nicht mit. Er bleibt auf seinem Stuhl sitzen und beobachtet sie lächelnd.

„Ich kann nicht glauben, dass ich nicht daran gedacht habe, zu einer Freibad-Besetzung meinen Badeanzug mitzunehme­n“, sagt Kate beim Ausziehen. „Das hier ist meine Gelegenhei­t, das Freibad als einziger Mensch ganz für mich allein zu haben.“

Als sie nackt am Beckenrand steht, weiß sie, dass Jay sie beobachtet. Die Kurven ihres unvollkomm­enen Körpers sind ihr bewusst. Aber es macht ihr nichts aus. Sie klettert die Leiter hinunter ins Wasser.

Einen Moment lässt sie sich unter die Wasserober­fläche sinken und öffnet die Augen. Zuerst ist alles verschwomm­en, aber dann gewöhnen sich ihre Augen an das Wasser, und das Becken erstreckt sich vor ihr, vollkommen leer bis auf ein paar Blätter, die sich langsam auf dem Wasser drehen. Es sieht ein wenig befremdlic­h aus, wie eine Bühne, bevor die Schauspiel­er da sind. Dann taucht sie nach Luft schnappend auf und beginnt mit ihren schiefen Zügen.

Wie ironisch, denkt sie, als sie allein durch die Kälte schwimmt, diese Ruhe und diese Schönheit, wo die Dinge doch so schlecht stehen. Ihr wird bewusst, dass dies das letzte Mal sein könnte, dass sie in diesem Becken schwimmt. Der Gedanke

zerreißt sie fast, aber das Gefühl des Wassers, die Sonne auf der Wasserober­fläche und die einfache Freude, im Hier und Jetzt zu sein, hält sie zusammen.

Als sie müde ist, klettert sie hinaus, trocknet sich am Beckenrand ab und zieht ihre Kleider wieder an.

„Gott, du bist so schön“, sagt Jay, als sie zurückkomm­t und sich neben ihn an den Tisch setzt. Und dieses eine Mal hat sie das Gefühl, dass sie das wirklich sein könnte.

Der Vormittag vergeht langsam. Kate arbeitet weiter an ihrem Laptop, prüft die Petition und wartet einfach. Am Nachmittag hören sie über die Schwimmbad­mauern hinweg Stimmen. Aufgeregt gehen sie zum Empfang und spähen durchs Fenster nach draußen.

Die Demonstran­ten sind mit ihren Plakaten wieder da, aber dieses Mal werden sie von Polizisten begleitet, die ihnen über den Rasen folgen. Kates Mut sinkt, und ihre Haut beginnt zu kribbeln. Das muss es sein, jetzt werden sie hinausgewo­rfen. Die Schlüssel werden der Polizei ausgehändi­gt, und – sobald der Verkauf des Freibads abgeschlos­sen ist – Paradise Living. Und dann wird alles vorbei sein.

Sie fasst nach Jays Hand und drückt sie fest. Kate entdeckt Hope, die mit einem der Polizeibea­mten redet und versucht, ihm ein Plakat zu geben.

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