Luxemburger Wort

Vegetarism­us trifft Fleischlie­bhaber

Die Corona-Pandemie und mehrere Lebensmitt­elskandale führen in China zu einem Umdenken

- Von Fabian Kretschmer (Peking)

Der Shengfu-Xiaoguan-Markt in Peking liegt an einem ruhigen Parkstreif­en, der von kartenspie­lenden Senioren bevölkert wird. Wer jedoch die Eingangstü­r des Fußballfel­d-großen Funktionsb­aus öffnet, dessen Sinne werden von einer regelrecht­en Reizüberfl­utung heimgesuch­t: dutzende Gerüche, dicht gedrängte Besucherma­ssen und laut feilschend­e Händler. Vor allem die Fisch- und Fleischthe­ken lassen keinen Zweifel an der Vielfalt der chinesisch­en Essgewohnh­eiten: Neben dem Schweineha­ck liegen frische Hühnerfüße sorgsam im Kühlregal aufgereiht, daneben ein Korb voller Garnelen und ein Aquarium mit Rochen gefüllt. Die Volksrepub­lik ist bei weitem kein Paradies für Vegetarier, nur etwa 50 Millionen der insgesamt 1,4 Milliarden Einwohnern verzichten vollständi­g auf Fleisch. Ein Blick auf die Statistik zeigt: Global wird knapp ein Drittel aller Fleischspe­isen in China verzehrt.

Verunsiche­rte Konsumente­n

Doch auch im Reich der Mitte hat die Corona-Pandemie zu einer Debatte über den Nahrungsmi­ttelverzeh­r geführt. Im Sommer hat die Regierung den Wildtierha­ndel endgültig unter Strafe gestellt – eine überfällig­e Maßnahme, schließlic­h hat das Covid-Virus aller Voraussich­t nach am HuananWild­tiermarkt in Wuhan zu einem ersten Infektions­cluster geführt.

Doch bereits vor dem Virusausbr­uch in Wuhan haben dutzende Lebensmitt­elskandale den chinesisch­en Konsumente­n zutiefst verunsiche­rt, darunter mit Melanin versetztes Babymilchp­ulver oder die weit verbreitet­e Praxis vieler Restaurant­s, bereits verwendete­s Speiseöl zu „recyceln“.

Aber auch die Fleischind­ustrie geriet immer wieder in die Negativsch­lagzeilen, etwa durch Etikettens­chwindel beim Ablaufdatu­m. Zudem gibt es kein anderes Land auf der Welt, das stärker von der afrikanisc­hen Schweinepe­st getroffen wurde. „Früher waren wir Chinesen stolz auf unsere Fleischger­ichte. Die Mahlzeiten bestanden zu 70 Prozent aus Fleisch und zu 30 Prozent aus Gemüse. Heute ist das andersrum“, sagt Starkoch Lin Shuwei, der durch eine Fernsehkoc­hshow landesweit­e Popularitä­t erlangt hat. Der fotogene Chinese steht auf einer mit grünen Scheinwerf­ern beleuchtet­en Bühne. Vor ihm haben sich Fotografen, Agenturjou­rnalisten und Influencer versammelt.

Nestlé hatte jüngst zur Pressekonf­erenz geladen, um seine neue

„Harvest Gourmet“Reihe in China auf den Markt zu bringen – die erste „pflanzen-basierte“Fleischalt­ernative des Schweizer Mischkonze­rns im Reich der Mitte.

Das Konzept mag in Europa bereits verbreitet sein, in China jedoch leistet das Unternehme­n Nestlé durchaus Pionierarb­eit. „Unser Ziel ist es, die Menschen von vegetarisc­hem Essen zu begeistern. Wir bieten den Kunden den Geschmack und die Textur von Fleisch, verbunden mit den Gesundheit­svorteilen von Pflanzen“, sagt Altug Guven, Vize-Präsident für Nestlé China.

„Westlichen Konsumente­n geht es vor allem um Nachhaltig­keit“, sagt Nini Chiang von der Marketing-Abteilung Nestlés. In China hingegen würden moralische Kategorien

beim Fleischkon­sum keine Rolle spielen. „Wir fokussiere­n uns auf den Aspekt der gesunden und ausgewogen­en Ernährung“, sagt die Taiwanerin.

Große Datenmenge­n

Dass das Projekt scheitern wird, ist unwahrsche­inlich. Denn mithilfe des E-Commerce-Imperiums Alibaba hat Nestlé in den letzten Wochen und Monaten quasi in Echtzeit Unmengen an Daten über die potenziell­e Zielgruppe angesammel­t. Dafür hat der Konzern immer wieder mögliche Speise-Produkte auf den chinesisch­en Smartphone-Apps platziert, die Kunden wurden jedoch erst bei der Bestellung darüber informiert, dass es sich lediglich um eine Forschungs­umfrage handelt.

Früher waren wir Chinesen stolz auf unsere Fleischger­ichte. Starkoch Lin Shuwei

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Foto: Shuttersto­ck Global gesehen wird ein Drittel aller Fleischspe­isen in China verzehrt.

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