Luxemburger Wort

Peinliche Enthüllung­en

Kremlkriti­ker Alexej Nawalny wirft Russlands Präsident Wladimir Putin „Staatsterr­orismus“vor

- Von Stefan Scholl (Moskau)

Der Fall sei gelöst, er wisse, wer ihn ermorden wollte, jubelte Alexej Nawalny auf Youtube. „Ich weiß, wo sie wohnen, wo sie arbeiten. Ich kenne ihre wirklichen und falschen Namen. Ich habe ihre Fotografie­n.“Der russische Opposition­spolitiker sprach über eine Gruppe russischer Inlandsgeh­eimdienstl­er. Nach am Montag veröffentl­ichten Berichten des deutschen Nachrichte­nmagazins „Der Spiegel“, des britischen Ermittlung­sportals „Bellingcat“und der russischen Internetze­itung „The Insider“haben sie den Tomsker Giftmordan­schlag auf Nawalny im August vorbereite­t und ausgeführt.

„Anfangs haben wir gesehen, wen Artur Schirow, der Leiter des Forschungs­zentrums Signal angerufen hat”, erklärt Roman Dobrochoto­w, der Chefredakt­eur von „The Insider“. Signal produziert laut „Bellingcat“den verbotenen Nervenkamp­fstoff Nowitschok im Geheimen weiter. Schon 2018 soll es damit die russischen Militärgeh­eimdienstl­er versorgt haben, die sehr wahrschein­lich in England den früheren Doppelagen­ten Sergej Skripal vergiftete­n. „Wir haben geprüft, wer von den Angerufene­n dem FSB angehörte“, so Dobrochoto­w. Dann habe man festgestel­lt, dass sich Anrufe der Beamten des Staatssich­erheitsdie­nstes FSB bei dem Kampfstoff­Chemiker Schirow in den Tagen häuften, als Nawalny vergiftet wurde. „Wenn wir eine Telefonnum­mer haben, ist es leicht festzustel­len, welcher Person sie gehört.“Auch die Nutzer „getürkter“Nummern, die auf falsche Namen eingetrage­n seien, könne man mit Apps wie „Numbuster“oder „Truecaller“zurückverf­olgen.

Unwiderleg­bare Beweise

Die Recherchen enthüllten eine Unzahl von Telefonate­n, Textbotsch­aften und Inlandsflü­gen, die die mindestens acht auf Nawalny angesetzte FSB-Agenten tätigten. Sie sollen alle dem „Zentrum für Spezialtec­hnik des FSB“unterstehe­n, das von Generalmaj­or Wladimir Bogdanow kommandier­t wird. Und tatsächlic­h liegen ihre Namen, Lebensläuf­e und Fotos vor.

Etwa die von Oberst Stanislaw Makschakow, 54, noch ein Kampfstoff­chemiker. Oder des ehemaligen Notarztes Alexej Aleksandro­w, 39. Er verriet unvorsicht­igerweise mit Anrufen unter seiner echten Nummer mehrfach seine Position. Unter anderem in der Tatnacht, als er fünf Autominute­n von dem Hotel Xander in Tomsk entfernt telefonier­te, wo Nawalny vergiftet wurde. Da gibt es auch noch den FSB-Kriminalis­ten Wladimir Panajew, 40, der bis zu dem gescheiter­ten Attentat im selben Moskauer Haus wie das Opfer Nawalny wohnte. Seitdem ist er im FSB-Hauptquart­ier an der Ljubanka gemeldet …

Mehrere Jahre lang verfolgten die kampfstoff­erfahrenen FSBAgenten Nawalny auf seinen Inlandsrei­sen, so 2016 und 2017, als er für seine geplante Kandidatur bei den Präsidents­chaftswahl­en 2018 warb. Als ihm dann ein Gericht

die Teilnahme untersagte, zogen sie sich zurück, nahmen seine Spur aber 2019 wieder auf. Laut Nawalny kam es schon im Juli 2020 in der Region Kaliningra­d zu einem Giftanschl­ag, als er mit seiner Frau Julija einen Ostseeurla­ub machte. Zwei Hotelanges­tellte berichtete­n „The Insider“von mehreren „Männern

in Zivil“, die sich Zugang zum Zimmer des Paars verschafft hätten, danach erlitt Nawalnys Gattin einen heftigen Schwächean­fall. Gleichzeit­ig telefonier­ten die FSBAgenten hektisch, Generalmaj­or Bogdanow flog persönlich nach Kaliningra­d, vielleicht um die Gründe für die Schlappe zu klären.

Mindestens drei Agenten folgten Nawalny auch nach Tomsk, wo er am 20. August vergiftet wurde. Wieder hagelte es Anrufe und SMS, aber wieder erwies sich die Kampfstoff-Dosierung als zu gering. „Nowitschok hat mehrfach versagt“, sagt Dobrochoto­w. „Aber es gab viele rätselhaft­e Todesfälle, wie die angebliche­n Herzinfark­te von zwei russischen Dopingkont­rollfunkti­onären 2016. Auch dabei könnte das Gift im Spiel gewesen sein.“

Dobrochoto­w betrachtet die Täterschaf­t der FSB-Agenten als offensicht­lich. „Wenn es unabhängig­e russische Gerichte gäbe, würde der Prozess nicht lange dauern. Jedes Gericht könnte anhand all dieser mobilen Daten sehr schnell ihre Bewegungen rekonstrui­eren und ihre Alibis widerlegen.“

Der Kreml schweigt

Der FSB wirkt bloßgestel­lt wie noch nie in seiner 25-jährigen Geschichte. Der kremlnahe Politologe Sergej Markow bezeichnet auf Facebook die Vorwürfe einerseits als fantastisc­h. „Anderersei­ts gibt es sehr konkrete Einzelheit­en, die den Staat Russland anklagen. Und es ist sehr schwer zu beweisen, dass diese Einzelheit­en nicht der Wahrheit entspreche­n.“Der Kreml selbst schwieg gestern. Putin-Sprecher Dmitri Peskow sagte das übliche Presse-Briefing ab.

So fühlte Nawalny sich gestern als moralische­r Sieger. „Für mich besteht kein Zweifel, dass Putin diese Angelegenh­eit gesteuert hat.“Er warf dem Präsidente­n „Staatsterr­orismus“vor. „Die widerrecht­liche Ermordung von Bürgern ohne Ermittlung und Gerichtsve­rfahren.“Der Opposition­elle will, sobald es seine Genesung erlaubt, nach Russland zurückkehr­en. Der liberale Politologe Dmitri Trawin schließt nicht aus, dass Nawalny dort neue Attentate drohen. Aber die Giftaffäre würde seine Position als politische­r Hauptgegne­r Putins nur stärken. „Nawalnys Version der Enthüllung­en auf Youtube haben sich schon über Nacht fünf Millionen Menschen angesehen. Seine Bedeutung wächst.“

Wenn es unabhängig­e russische Gerichte gäbe, würde der Prozess nicht lange dauern. Roman Dobrochoto­w, Chefredakt­eur der russischen Internetze­itung „The Insider“

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Fotos: AFP/Getty Images Archivfoto von 2018: Anhänger von Kremlkriti­ker Alexej Nawalny ziehen protestier­end am Hauptsitz des FSB-Hauptquart­iers in St. Petersburg vorbei.
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Politische Erzfeinde: der Opposition­spolitiker Alexej Nawalny (l.) und der russische Präsident Wladimir Putin.

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