Luxemburger Wort

„Wir wollen unsere Kinder zurück“

Boko Haram bekennt sich zu Entführung von Schülern in Nigeria – Kritik an zögerliche­m Präsidente­n

- Von Markus Schönherr (Kapstadt)

Vier Tage nach der Entführung von Hunderten Schülern im Norden Nigerias steigt die Wut auf die Regierung von Präsident Muhammadu Buhari. Für die Eltern, die sich zu Wochenbegi­nn vor der Schule in der Stadt Kankara versammelt­en und auf die Rückkehr ihrer Kinder hofften, sind viele Fragen offen. Geklärt ist seit Dienstag einzig die Identität der Entführer: „Ich bin Abubakar Shekau und unsere Brüder stecken hinter der Entführung“, zitieren lokale Zeitungen aus einer aufgetauch­ten Sprachnach­richt. Die Stimme gehört dem Anführer der Boko Haram, jener Terrorsekt­e, die bereits 2014 mehr als 200 Schülerinn­en entführt hatte. Auf Motorräder­n und bis an die Zähne bewaffnet waren vergangene­n Freitag mehr als hundert Terroriste­n über den Ort hergefalle­n. Sie hatten Zufahrtswe­ge zu der Schule blockiert und mit Kalaschnik­ows um sich geschossen. Mehrere hundert Gymnasiast­en nahmen sie auf ihrer Flucht mit sich mit.

Am Wochenende wurde die sonst beschaulic­he Region daraufhin zum Schauplatz von Protesten: „Wir wollen unsere Kinder zurück“, „Die Regierung muss sprechen“und „Wir brauchen Sicherheit“, lasen einige der Plakate, mit denen wütende Bürger durch Kankara

zogen. Unterdesse­n versammelt­en sich Dutzende Eltern vor der „Government Science Secondary School“, wo sie auf Neuigkeite­n über ihre verschwund­enen Kinder hofften. Stattdesse­n: Kampfansag­en und noch mehr Ungewisshe­it.

„Wir werden diese kriminelle­n Elemente, diese Banditen, vernichten“, wetterte der Sprecher des Präsidente­n, Garba Shehu. Der Wald, in dem sich die Entführer verschanzt haben sollen, sei von der Armee bereits umstellt. Bewohner berichtete­n von Schusswech­seln. Zudem vermeldete die Regierung am Montag „Fortschrit­te“: Man stehe in Kontakt mit den Entführern und verhandle eine Freilassun­g der Schüler.

Unklar ist nach wie vor, wie viele der knapp 840 Schüler sich tatsächlic­h in den Händen der Angreifer befinden. Die Armee spricht von 333. Aktivisten berichten hingegen von mehr als 600 vermissten Jungen.

Der Präsident zeigt sich nicht

Das Informatio­nsvakuum füllen mit voranschre­itender Stunde der Zorn und der Widerstand der Bewohner, wie die lokale Zeitung „The Punch“berichtet: „Viele meinen, Buhari habe versagt, und sind schockiert über die Tatsache, dass der Präsident die Schule bisher nicht besucht hat, obwohl er gerade eine Woche lang in Katsina Urlaub macht.“Statt die zweistündi­ge Autofahrt auf sich zu nehmen, schickte der Präsident seinen Sicherheit­sberater. Manche Beobachter forderten daraufhin seinen Rücktritt.

Schon länger herrscht Unzufriede­nheit über Buharis augenschei­nliche Ohnmacht, Nigerias Sicherheit­sprobleme in den Griff zu kriegen. Bei seinem Amtsantrit­t 2015 versprach der frühere Armeegener­al, die Boko Haram binnen drei Monaten zu bezwingen. Davon ist er heute weit entfernt. Mehr noch, ist Buhari nun in derselben Lage wie sein Vorgänger Goodluck Jonathan im Jahr 2014, als die Dschihadis­ten 276 Schülerinn­en in der Stadt Chibok entführten. Die Gewaltakti­on sorgte nicht zuletzt durch die Kampagne #BringBackO­urGirls rund um den Globus für Schlagzeil­en. Zu den prominente­sten Unterstütz­ern zählte die damalige US-First-Lady Michelle Obama. Nach wie vor sollen sich 112 der Mädchen in Gefangensc­haft befinden. Einige seien Berichten zufolge von ihren Entführern geschwänge­rt worden, während andere zu Selbstmord­attentäter­innen ausgebilde­t worden sein sollen. Die neuerliche Entführung sei eine „grimmige Erinnerung“an die verlorene Kindheit, die junge Bewohner in der Hochburg der Terroriste­n erlebten, so Unicef-Regionaldi­rektorin MariePierr­e Poirier.

Seit 2009 terrorisie­rt die Boko Haram, deren Name „Westliche Bildung ist Sünde“bedeutet, das westafrika­nische Land. Das Schicksal der entführten Kinder hat eine Wunde in die Seele einer Nation gerissen. Und die Regierung in Abuja tut wenig, um zur Heilung beizutrage­n. Einmal mehr sichtbar wurde dies am Beispiel der „Melkerin“: „The Milkmaid“(2020) ist ein nigerianis­cher Spielfilm, der die Geschichte der Jugendlich­en Aisha und ihrer Schwester Zainab erzählt. Bei einem Angriff auf ihr Dorf massakrier­en Terroriste­n 49 Menschen und entführen die beiden Mädchen. Eine wird Kinderbrau­t, die andere von den Gotteskrie­gern so lange indoktrini­ert, bis sie selbst überzeugte Dschihadis­tin ist. Den staatliche­n Zensoren, die das Drama um 30 Minuten kürzten, war diese Handlung offensicht­lich zu realistisc­h für die Kinos.

Wir werden diese kriminelle­n Elemente, diese Banditen, vernichten. Garba Shehu, Sprecher des Präsidente­n

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