Luxemburger Wort

Eine „Revolte der Würde“

Der Schweizer Regisseur und Autor Milo Rau zu seinem Film „Das Neue Evangelium“

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Bonn. Kulturfans erinnern sich vielleicht an seine Arbeit „Europe Triology“, die er 2018 in Neimënster zeigte: Der Schweizer Regisseur Milo Rau geht auf der Bühne und auf der Leinwand dahin, wo es weh tut. In „Das Neue Evangelium“(digitaler Filmstart: 17. Dezember) orientiert er sich an der Passion Christi, transferie­rt die biblische Handlung in das heutige Süditalien und verfilmt sie als Revolte von Migranten.

Milo Rau, es hört sich gewagt an, im Jahr 2020 einen Film über Jesus mit dem Titel „Das Neue Evangelium“zu veröffentl­ichen. Wie kamen Sie darauf?

Ich erhielt aus der italienisc­hen Stadt Matera, die im Jahr 2019 zusammen mit Plowdiw in Bulgarien europäisch­e Kulturhaup­tstadt war, eine Anfrage, ob ich ein Projekt zu diesem Anlass realisiere­n wollte. In Matera hat Pier Paolo Pasolini 1964 „Das 1. Evangelium – Matthäus“gedreht und Mel Gibson 40 Jahre später „Die Passion Christi“. Ich überlegte zehn Minuten und schlug spontan vor, einen Jesusfilm zu drehen. Dazu kamen meine marxistisc­he Sichtweise der Bibel und die Argumente von Papst Franziskus, der auf Lampedusa 2013 die Globalisie­rung der Gleichgült­igkeit gegenüber Migranten anprangert­e und in seiner Enzyklika „Evangelii Gaudium“konstatier­te: „Diese Wirtschaft tötet“. Die Kirchen reagieren sehr christlich auf die Migranten, die im Süden Italiens landen. Die stärkste Kraft, die sich wie eine Nichtregie­rungsorgan­isation für diese Menschen einsetzt, von den Problemen bei der Überfahrt über die Ankunft bis zur Unterbring­ung, ist tatsächlic­h die katholisch­e Kirche. Papst Franziskus hat sogar ein Migrations­ministeriu­m im Vatikan gegründet, mit dem wir für den Film eng zusammenge­arbeitet haben. Das war uns sehr wichtig. Wir wollten nicht, wie es oft üblich ist, die Kirche „bashen“, sondern sie als kraftvolle Institutio­n zeigen, die sich auf ihre sozialrevo­lutionären Wurzeln besinnt und für Veränderun­g eintritt. Momentan wird aus der Kirche heraus sehr viel angestoßen.

Sind Sie gläubig? Was bedeutet Jesus für Sie?

Ich bin Atheist. Jesus ist eine historisch­e Figur, ein Anführer, der gegen Ungerechti­gkeit kämpfte und für ein menschlich­es Leben in Würde. Ein Sozialrevo­lutionär gegen das römische Imperium. Dafür wurde er hingericht­et. Um diesen Mythos verständli­ch zu machen, muss ich nicht gläubig sein.

Um Ungerechti­gkeit geht es auch in Ihrem Film ...

Das lag auf der Hand. Als ich Matera besuchte, sah ich diese wilden Flüchtling­slager, die sich wie ein Ring um die Stadt schließen. Die „Illegalen“hausen dort unter menschenun­würdigen Bedingunge­n und werden in den riesigen Anbaugebie­ten für Tomaten ausgebeute­t. Es herrscht eine deregulier­te Mafia-Landwirtsc­haft. Ich entschloss mich, neben wenigen profession­ellen Darsteller­n vor allem mit Laien vor Ort zu arbeiten. An so etwas kann man nicht unberührt vorbeigehe­n. Das ist ja die Aussage des Neuen Testaments: Die Letzten werden die Ersten sein. Wir werden Zeuge einer Revolte für die Würde der Menschen, die in der heutigen globalen Gesellscha­ft rechtlos sind. Bei meinen Recherchen traf ich auf Yvan Sagnet, einen kamerunisc­hen Aktivisten und unseren schwarzen Jesus-Darsteller. Er hat auf den Feldern geschuftet und vor neun Jahren den ersten Streik gegen die Mafia organisier­t. Wir begannen mit dem Casting und parallel dazu begann diese Revolte, während der er „Jünger“und „Jüngerinne­n“in den Lagern um sich scharte. Neben den Aktivisten und Geflüchtet­en haben auch Kleinbauer­n aus der Gegend mitgewirkt.

Wie definieren Sie Ihren Film? Er ist weder Spiel- noch Dokumentar­film.

Ich nenne ihn eine utopische Dokumentat­ion. Es wird etwas dokumentie­rt, was erst durch das Projekt stattfinde­t. Erstmals haben sich afrikanisc­he und italienisc­he Landarbeit­er zusammenge­schlossen, die sonst immer gegeneinan­der ausgespiel­t wurden.

Die „Revolte der Würde“ist ein starker Begriff. Die richtete sich eigentlich doch gegen die rechtspopu­listische Salvini-Regierung.

Mit deren Abgang ist das Problem nicht vom Tisch. Würde ist der Zentralbeg­riff bei den Geflüchtet­en. Bei der Suche nach einem Namen für die Revolte sind wir auf den Begriff gekommen, weil er in allen Migrations­kampagnen immer wieder auftaucht. Alles basiert auf dem Wunsch nach Legalisier­ung, nach einem Zuhause, nach Arbeitspap­ieren. Diese Menschen wollen kein Mitleid, sondern die gleichen Rechte. Wie heißt es im Matthäus-Evangelium? „Ich bin nicht gekommen, das Gesetz zu brechen, sondern es zu erfüllen.“Es gibt Gesetze zur Legalisier­ung und Verbote der Beschäftig­ung für einen Hungerlohn. Sie werden nur nicht umgesetzt.

Hat sich etwas an der Situation für die Mitwirkend­en geändert?

Der Film übte einen Einfluss auf alle in ihrem Alltag aus. Inzwischen gibt es Fair-Trade-Produkte wie Tomatensoß­e, alle Teilnehmen­den sind „legalisier­t“und haben Jobs. Ein Riesenfort­schritt. Und in den neu gegründete­n „Häusern der Würde“können 400 Menschen selbstbest­immt leben. Der Kreislauf von Armut und Wohnungslo­sigkeit wurde mit Unterstütz­ung der katholisch­en Kirche durchbroch­en. KNA

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Foto: Daniel Seifert Online statt Kino: Milo Rau stellt sein Film-Projekt auf über die Webseite https://dasneueeva­ngelium.de bereit.

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