Der Mann aus dem Kalender
Brutaler Überfall auf älteres Ehepaar im Jahr 2015: Kevin P. wird von heute an der Prozess gemacht
Die Täter begeben sich in dem Einkaufszentrum auf eine regelrechte Opferjagd.
Luxemburg. Das Szenario ist blanker Horror: Drei Männer gehen an einem Samstagvormittag in einem Einkaufszentrum am Rande der Hauptstadt regelrecht auf Opferjagd. Sie halten nach älteren Menschen Ausschau – wohlhabenden älteren Menschen. Sie werden fündig und berauben ein über 80-jähriges Paar auf erschreckend und sinnlos gewaltsame Weise.
Nachdem bereits zwei Täter in diesem Fall rechtskräftig verurteilt sind, beginnt heute der Prozess gegen einen dritten Tatverdächtigen: Kevin P., der nach dem Überfall untergetaucht war, dessen Antlitz dann im Dezember 2016 den Europol Adventskalender der meistgesuchten Verbrecher zierte und schließlich Zielfahndern des Enfast-Netzwerks im Juli 2019 in Metz ins Netz ging.
Opferjagd in der City Concorde
Die Tat liegt indes bereits fünf Jahre zurück: Am 4. Juli 2015 geht kurz nach 14 Uhr ein Notruf bei der Polizei ein. Erste Beamte am Tatort finden zunächst einen 87-jährigen Mann regungslos im Eingangsbereich eines Einfamilienhauses in Senningen. Sanitäter sind indes im Hausflur dabei, einer 85-jährigen Frau erste Hilfe zu leisten. Das Paar ist am helllichten Tat Opfer eines äußerst gewaltsamen Überfalls geworden.
Da das Paar jeden Samstagvormittag zum Einkaufszentrum City Concorde fährt, liegt der Verdacht nahe, dass die Opfer dort ihren Angreifern über den Weg gelaufen sein könnten. Und dieser Verdacht bestätigt sich schnell.
In minuziöser Kleinstarbeit werten Kriminalpolizisten die Aufnahmen sämtlicher Überwachungskameras im Einkaufszentrum aus und verfolgen jeden Schritt der beiden älteren Menschen. Dabei tauchen bald drei Männer auf, welche das Paar und insbesondere die 85-jährige Frau während mehr als anderthalb Stunden ständig im Blick behalten. Dazu kommt: Sie passen auf die Täterbeschreibung beim Raubüberfall.
Die Ermittler vollziehen nun auch die Wege der drei Verdächtigen nach. Diese erreichen das Einkaufszentrum kurz nach 11 Uhr in einem gemieteten Mercedes. Sie trennen sich und beobachten Menschen.
Nach kurzer Zeit kreuzt der Weg eines Angeklagten jenen der 85-jährigen Frau. Er bleibt an ihr dran. Und die beiden anderen Verdächtigen schließen sich der Observierung an. Einer stellt sich gar in einer Bäckerei direkt hinter die Frau in die Warteschlange.
Später verfolgen sie das Paar über den Parkplatz. Als das ältere Paar unerwartet und rein zufällig eine Extrarunde über den Parkplatz dreht, bleibt das Auto der Täter dran, das zeigen Videobilder.
Angriff bei der Heimkehr
Kurz vor 14 Uhr erreichen die Opfer dann ihr Wohnhaus in Senningen. Während der Mann erste Einkäufe in die Küche trägt, vernimmt er die gellenden und verzweifelten Schreie seiner Frau. Als er ihr zur Hilfe eilen will, sieht er zwei Männer im Hauseingang auf seine Frau einschlagen. Als er eingreift, wird er selbst auch niedergeschlagen. Ein brennender Schmerz in der Schulter verhindert, dass er erneut aufsteht.
Die Täter reißen der Frau indes den Schmuck vom Körper: drei Ringe mit einem Gesamtwert von rund 780 000 Euro. Eine Kette und ein Armband lassen sich allerdings nicht so einfach abziehen. Doch das hält die Täter nicht ab. Insbesondere einer der Angreifer versucht es mit noch mehr Kraft. Die Folge: Er reißt der Frau mit dem Armband das Fleisch vom Unterarm. Als sich Augenzeugen bemerkbar machen, lassen die Angreifer vom Opfer ab. Bevor sie flüchten, zersticht einer von ihnen noch mit einem Messer die Reifen des Autos des älteren Paars.
Trauma mit dramatischen Folgen
Das Paar wird sich nie von den dramatischen Erlebnissen erholen. Neben den körperlichen Verletzungen sind es vor allem seelische Schäden, mit denen sie nicht zurechtkommen. Wie im ersten Prozess ausgeführt wurde, erleidet vor allem die damals 85-jährige Frau eine schwere posttraumatische Belastungsstörung. Sie hat Angstzustände und wird von Albträumen verfolgt. Eine Therapie im Ausland bricht das Paar mangels Erfolgsaussichten ab.
Dazu kommt: Die Frau leidet unter einer degenerativen Erkrankung, deren Symptome sich nach dem Überfall drastisch verschlimmern. Der 87-jährige Mann geht, wie im Prozess hervorgehoben wird, zudem regelrecht an dem, was das Erlebte mit seiner Frau gemacht hat, zugrunde. Beide verlassen ihr Familienhaus in Senningen für immer, da sie das Leben dort nicht mehr ertragen.
Désiré S. und Ringo P. werden nur wenige Wochen nach der Tat in Frankreich in der Nähe von Metz verhaftet: der damals 39-jährige Désiré S. während eines evangelischen Gottesdiensts, sein 46jähriger Schwager, Ringo P., auf einem Campingplatz. Dessen Neffen Kevin P. gelingt es, sich der Festnahme zu entziehen.
Ein erster Prozess wird im Juni 2017 gegen die beiden Festgenommenen geführt. Als sie mit der erdrückenden Beweislast konfrontiert werden, die sich aus den Kamerabildern, den Telefondaten und Zeugenaussagen ergibt, geben beide zu, an jenem Tag in der City Concorde gewesen zu sein. Sie bestreiten aber vehement, das Paar überfallen zu haben.
Darüber hinaus stellen sie sich im Prozess immer wieder als arbeitsame Handwerker dar, die fälschlicherweise in die Mühlen der Justiz geraten seien. Dass sie einschlägig wegen schwerer Straftaten vorbelastet sind, versuchen sie im Prozess zu vertuschen. Letztlich wird in erster Instanz nur Désiré S. verurteilt, dessen DNS in großer Menge auf dem T-Shirt des Opfers nachgewiesen wurde. Für Ringo P. gibt es einen Freispruch – im Zweifel für den Anklagen.
Sieben Jahre Haft für zwei Täter
In zweiter Instanz sehen die Richter das anders: Das Berufungsgericht verurteilt beide Angeklagte zu einer Haftstrafe von sieben Jahren. Das gleiche Strafmaß dürfte im Falle eines Schuldspruchs auch Kevin P. erwarten.
Der wird nach seiner Flucht mit europäischem Haftbefehl und einer roten Notiz von Interpol gesucht. Zudem stellt das europäische Fahndungsnetzwerk Enfast ihn bei einer ihrer Öffentlichkeitskampagnen im Dezember 2016 in den Vordergrund: dem Adventskalender mit den meistgesuchten Verbrechern Europas.
Doch den erwünschten Erfolg bringt das nicht. Zielfahnder sind ihm dennoch dicht auf der Spur und verfolgen ihn von Saint-Tropez über Antibes nach Paris, dann zurück nach Cannes. Als sich dann im Juli 2019 in Metz schließlich eine Gelegenheit bietet, schlagen die Fahnder zu. Und es gibt einen Beifang: Ringo P., der nach seinem Freispruch in erster Instanz untergetaucht war, wird ebenfalls festgenommen.
Der Ehemann geht an dem, was das Erlebte mit seiner Frau gemacht hat, zugrunde.