Das Dilemma von Georgia
Die Stichwahlen zum US-Senat entscheiden darüber, ob Joe Biden mit einer Mehrheit im Kongress regieren kann
Der gewählte US-Präsident verlor am Tag nach seiner Bestätigung durch das Wahlmännerkollegium keine Zeit. Trotz einer lästigen Erkältung eilte Joe Biden in den Bundesstaat, der Anfang des Jahres über den Spielraum für Veränderungen in Amerika entscheiden wird. Wenn dem schwarzen Prediger Raphael Warnock und dem jungen Shootingstar Jon Ossoff das Kunststück gelingt, in dem Südstaat zu gewinnen, hätten die Demokraten 50 Sitze im Senat. Genug, um mit der Stimme von Vizepräsidentin Kamala Harris Gesetze zu beschließen.
„Ihr habt im November etwas Außerordentliches geschafft”, rief Biden mit heiserer Stimme seinen Anhängern zu, die zu einer „Drive-In“-Kundgebung in Atlanta gekommen waren. „Ihr habt in Rekordzahl gewählt”, erinnert Biden an den ersten Sieg eines Demokraten bei den Präsidentschaftswahlen seit Jimmy Carter. Eine 20 Prozent höhere Wahlbeteiligung gegenüber 2016 hatte Biden mit rund 13 000 Stimmen zu einem hauchdünnen Sieg über Donald Trump verholfen. „Das müsst ihr jetzt noch einmal machen”. Mit Warnock, einem Führer der „Ebenezer Baptisten Kirche”, in der einst der Bürgerrechtler Martin Luther King predigte, und Ossoff, einem weißen Juden, der für die in diesem Jahr verstorbene schwarze Bürgerrechtsikone John Lewis arbeitete, haben die Demokraten zwei attraktive Kandidaten, die den „neuen Süden“repräsentieren. Umfragen sehen beide in einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit den Republikanern Kelly Loeffler und David Perdue. Nach übereinstimmender Analyse von Wahlstrategen beider Parteien hängt am Ende alles davon ab, wer seine Anhänger am besten mobilisieren kann.
An Leidenschaft mangelt es jedenfalls auf keiner Seite, wie die Szenen in Atlanta illustrieren. Dort marschierten Hunderte TrumpAnhänger mit „Stop the Steal“Schildern auf, auf denen sie den angeblichen Diebstahl des Wahlsiegs vom Amtsinhaber beklagen. Eine durch nichts bewiesene Verschwörungstheorie, die fast 60 Gerichte und der Supreme Court als haltlos zurückgewiesen haben. Biden-Anhängerin Nicole Gordon provozierte die Rotkappen mit einer Karaoke-Darbietung des
Joe Biden bei einem Wahlkampfauftritt im US-Bundesstaat Georgia.
„Rolling Stones”-Songs „You Can’t Always Get What You Want”, den Trump oft auf seinen Kundgebungen spielt. So auch auf dem Regionalflughafen von Valdosta, den der Präsident als Kulisse für seine erste Kundgebung nach der Niederlage am 3. November gewählt hatte. Statt über die Senatskandidaten zu sprechen, wiederholte Trump seine Klagen über den nachweislich nicht vorhandenen Wahlbetrug. Er beschwerte sich über Gouverneur Brian Kemp und den für die Zertifizierung der Ergebnisse zuständigen Secretary of State, Brad Raffensperger und beschimpfte sie als „Schein-Republikaner“.
Republikanischer Eiertanz
Republikanische Strategen schlagen Alarm über die möglichen Konsequenzen der gemischten Botschaften, die an die Wähler ausgesandt werden. Die Parteivorsitzende Ronna McDaniel hatte bei einer Veranstaltung in Marietta ihre liebe Mühe, zu erklären, warum Republikaner bei den Stichwahlen ihre Stimme abgeben sollten, wenn die Wahlen ohnehin gestohlen würden. „Nichts ist entschieden“, versuchte McDaniel die
Zweifler zu überzeugen. „Wenn ihr nicht wählt, steht das Ergebnis schon fest.“
Die Milliardärin Loeffler und der Geschäftsmann Perdue sehen sich bei dieser Ausgangslage gezwungen, im Wahlkampf einen Eiertanz aufzuführen. Immerhin glauben 70 Prozent der Republikaner den Behauptungen Trumps, es habe massiven Wahlbetrug gegeben. Eine davon ist Lauren Voyle, die viereinhalb Stunden mit dem Auto zu der Kundgebung Trumps in Valdosta angereist kam. Sie sei fest davon überzeugt, dass Trump der Sieg gestohlen worden sei. „Ich werde nicht wählen bevor wir saubere Wahlen mit Wahlscheinen auf Papier, ID’s und Fingerabdrücken haben.“
Verkompliziert hat sich die Lage mit der Anerkennung des „gewählten Präsidenten“Biden durch den republikanischen Senatsführer Mitch McConnell. Der republikanische Wahlstratege Brendan Buck bringt das Dilemma der Partei vor den wichtigen Stichwahlen am 5. Januar auf den Punkt. „Die Sitze sind hauptsächlich wegen Donald Trump in Gefahr. Gleichzeitig ist Donald Trump die einzige Person, die uns retten kann.“