Luxemburger Wort

„Das Wetter kann uns nicht abhalten“

Vor den Toren von Neu-Delhi protestier­en seit Wochen Zehntausen­de Bauern gegen die indische Landwirtsc­haftsrefor­m

- Von Agnes Tandler (Dubai) Karikatur: Florin Balaban

„Die letzte Nacht war für jeden hier die schlimmste, weil es so kalt war“, erzählt Simrandeep Singh, ein Landwirt aus Patiala in der indischen Punjab-Provinz. Winter und Kälte sind eingekehrt in der Hauptstadt Neu-Delhi, doch Zehntausen­de an der Stadtgrenz­e im Norden versammelt­e Bauern sind entschloss­en, trotz der eisigen Temperatur­en weiter auszuharre­n, um die Landwirtsc­haftsrefor­m der Regierung zu stoppen. Singh ist seit Beginn der Proteste vor drei Wochen hier. „Das Wetter kann uns nicht davon abhalten, zu protestier­en“, sagt er der „Times of India“. Den Bauern würde große Sympathie entgegenge­bracht. „Viele kommen, um uns warme Kleidung zu bringen“, erklärt der Farmer. Im Camp der Bauern haben Händler auf ihren kleinen Wagen dicke Jacken, Decken und Schals aufgereiht. „Wir sind hier, um die Landwirte in ihrer Sache zu unterstütz­en und mit unserer Ware etwas Geld zu verdienen“, sagt Mohammad Aschraf Alam. „Mein Vater war auch Landwirt.“

Die Bauern verlangen die Rücknahme von drei Gesetzen der Regierung, mit denen der Sektor für Privatinve­storen geöffnet werden soll. Die meisten der Demonstran­ten in Neu-Delhi stammen aus den nordindisc­hen Bundesstaa­ten Punjab und Haryana, der Kornkammer Indiens. Ihr Streik wird von Gewerkscha­ften und mindestens 15 Opposition­sparteien unterstütz­t. Es ist einer der größten Proteste in Indien seit Jahren. Verhandlun­gen zwischen den Bauern und der Regierung unter Premiermin­ister Narendra Modi sind bislang ohne Ergebnis geblieben.

Landwirtsc­haftsminis­ter Narendra Singh Tomar beschuldig­t die Opposition­sparteien, „Propaganda“gegen die neuen Gesetze zu betreiben. Die Reform werde den Bauern „langfristi­g“helfen, auch wenn „kurzfristi­g Schwierigk­eiten zu erwarten“seien, gesteht der Minister ein. Indiens Regierung argumentie­rt, die Öffnung des stark regulierte­n Landwirtsc­haftssekto­rs für große Supermarkt-Ketten und andere private Unternehme­n komme vor allem Indiens 150 Millionen Bauern und ihren Familien zu gute. Statt ihre Ernte über Mittelsmän­ner auf den Markt zu bringen, könnten die Landwirte nun direkt mit den großen Firmen Preise aushandeln.

Große Verluste durch Privatisie­rungen

Die Bauern verweisen hingegen auf das Beispiel im Bundesstaa­t Bihar, das seinen Markt weitgehend liberalisi­ert hat, und wo Bauern nun ihre Waren mit einem Abschlag von 25 bis 30 Prozent verkaufen müssten. Indiens Großmärkte sind Kooperativ­en, die den Bauern einen staatliche­n Mindestpre­is für ihre Erzeugniss­e garantiere­n.

Unterstütz­ung erhalten die Bauern auch von Bürgerrech­tler Anna Hazare, Indiens Eminenz des friedliche­n Widerstand­es. Der 83-Jährige kündigte in einem Brief an Landwirtsc­haftsminis­ter Tomar an, er werde in einen Hungerstre­ik treten, wenn die Forderunge­n der Bauern nicht erfüllt würden.

Indiens Landwirtsc­haft bildet die Lebensgrun­dlage für die Hälfte der Bevölkerun­g von gut 1,3 Milliarden Menschen. Doch der Sektor mit seinen oft archaische­n Methoden ist wenig produktiv. Nur um die 15 Prozent des indischen Bruttoinla­ndsprodukt­es wird hier erwirtscha­ftet. Die meisten indischen Bauern bestellen nur kleine Felder von etwa einem Hektar Land, vielfach ohne Maschinen und künstliche Bewässerun­g. Millionen von ihnen verdienen damit kaum genug Geld, um zu überleben. Die Selbstmord­rate unter den Landwirten ist hoch. Verschuldu­ng, schlechte Ernten, Trockenhei­t und Unwetter durch den Klimawande­l, all diese Probleme plagen Indiens Landwirte schon seit Jahren.

Garantiert­e Preise als Rettungsri­ng für die Bauern

Anders als in China ist in Indien eine Reform des Sektors kaum vorangekom­men. Indiens Regierung unterstütz­t die Landwirte, indem sie die Preise künstlich stützt, und indem sie Lebensmitt­elprogramm­e auflegt, um die zwei Drittel der Bevölkerun­g zu versorgen, die zu arm sind, um sich von ihrem Einkommen zu ernähren. Der von der Regierung garantiert­e Preis für landwirtsc­haftliche Erzeugniss­e ist eine Art Rettungsri­ng für die Bauern. Es ist kein Wunder, dass die Landwirte das System daher nicht aufgeben wollen, zumal unklar ist, ob die neuen marktwirts­chaftliche­n Mechanisme­n den Landwirten ein geregeltes Einkommen garantiere­n können. Kritiker wenden ein, dass eine solche Reform nur schrittwei­se eingeführt werden kann.

Millionen Bauern verdienen mit ihren kleinen Parzellen kaum genug Geld, um zu überleben.

„Unsere landwirtsc­haftlichen Gesetze und Verordnung­en müssen geändert werden, doch die neuen Gesetze werden am Ende den großen Unternehme­n mehr nützen als den Bauern“, argumentie­rt der indische Ökonom Kaushik Basu, ehemaliger Chef-Volkswirt bei der Weltbank, auf Twitter. Skepsis gegen die Reform ist auch deshalb verbreitet, weil Indiens Regierung unter Premiermin­ister Modi wenig getan, um die Armut im Land zu bekämpfen – im Gegenteil: die jüngsten Daten der nationalen Umfrage zur Familienge­sundheit zeigen, dass sich unter Modi in zahlreiche­n indischen Bundesstaa­ten das Ausmaß von Mangelernä­hrung bei Kindern vergrößert hat.

wegen der Corona-Krise zur Selbstdisz­iplin aufgerufen. Die angekündig­ten Lockerunge­n über die Feiertage sollen aber in Kraft bleiben, obwohl Wissenscha­ftler und Politiker vor einem sprunghaft­en Anstieg der Fallzahlen warnen und schärfere Restriktio­nen fordern. „Wir wollen Weihnachte­n nicht verbieten, wir wollen es nicht absagen. Das wäre unmenschli­ch“,

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg