Luxemburger Wort

Dunkle Seiten Kanadas

Residentia­l Schools und die Entschuldi­gungen kanadische­r Regierunge­n, Auszug aus Gerd Braunes Buch: „Indigene Völker in Kanada“.

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Alex Greyeyes war Präsident des „Saskatchew­an Indian Cultural College“, als meine Frau und ich ihn 1982 in Saskatoon in der kanadische­n Prärieprov­inz Saskatchew­an trafen. Das College, das inzwischen in „Saskatchew­an Indigenous Cultural Centre“umbenannt wurde, war 1972 gegründet worden und war eine der ersten Bildungsei­nrichtunge­n unter First-Nations-Kontrolle. Es hatte die „Stärkung von Bildung und kulturelle­m Bewusstsei­n“der First Nations zum Ziel und entwickelt­e Curricula für die nun entstehend­en Schulen unter indigener Führung. Alex Greyeyes kam in unserem Gespräch schnell auf die Residentia­l Schools zu sprechen. Er berichtete von seinen Erfahrunge­n als Schüler einer dieser Residentia­l Schools, die als Internate betrieben wurden. „Ich habe meine Sprache in der Schule verloren. Wir wurden bestraft, wenn wir eine indianisch­e Sprache sprachen. Ich musste meine Sprache später wieder lernen.“Von weit entfernten Reservatio­nen wurden Kinder in die Internatss­chulen gebracht. „Wir wurden in einem Gefängnis gehalten. Wir durften nicht nach Hause gehen, nicht zu Ostern, nicht zu Weihnachte­n.“Dann sagte er: „Unser Stolz wurde gebrochen.“Aber er war überzeugt, dass sich jetzt die Chance für die indianisch­en Völker öffne, diesen Stolz wiederzuer­langen.

Ich wusste also einiges über Residentia­l Schools, als ich 15 Jahre später in Ottawa meine Arbeit als Korrespond­ent aufnahm. Aber erst an dem Tag, an dem die liberale Regierung von Premiermin­ister Jean Chrétien das Dokument „Gathering Strength – Canada’s Aboriginal Action Plan“veröffentl­ichte, wurde mir das Ausmaß dieser Katastroph­e und das bis in die Gegenwart reichende Trauma voll bewusst, das diese Schulen mit ihrem Mandat der erzwungene­n Assimilier­ung und der Zerstörung indigener Kultur, Sprache und Identität angerichte­t hatten. Am 7. Januar 1998 veröffentl­ichte die Regierung dieses Dokument, zu dem auch ein „Statement of Reconcilia­tion“gehörte: Erstmals entschuldi­gte sich die kanadische Regierung für jeden hörbar für das Unrecht, das den indigenen Völkern über Jahrhunder­te zugefügt wurde. Zentraler Punkt der Versöhnung­serklärung, die Vertretern der First Nations, Inuit und

Buchautor Gerd Braune ist Korrespond­ent des Luxemburge­r Wort.

Métis überreicht wurde, war das Eingeständ­nis, dass Kinder indigener Völker in den vom Staat errichtete­n, meist von Kirchen betriebene­n Residentia­l Schools psychische­r und physischer Gewalt bis hin zum sexuellen Missbrauch ausgesetzt waren. Der Kernsatz der Erklärung lautet: „Wir sagen allen, die unter dieser Tragödie gelitten haben: Es tut uns zutiefst leid.“(...) Das Dokument enthielt zwar vor allem aus juristisch­en Gründen nicht das Wort „apology“, Entschuldi­gung. Aber National Chief Phil Fontaine stand auf und akzeptiert­e die Erklärung als Entschuldi­gung und Beginn einer neuen Ära.

Die Geschichte der Residentia­l Schools

„Die Regierung von Kanada bittet um Vergebung“

Das System der Residentia­l Schools hat seine Wurzeln im 18. Jahrhunder­t, wurde aber erst mit Beginn des 19. Jahrhunder­ts in Kanada gezielt aufgebaut. Die ersten, damals als Boarding School bezeichnet­en Einrichtun­gen wurden bereits vor Gründung des Staates Kanada 1867 geschaffen. Residentia­l Schools existierte­n in Kanada etwa 150 Jahre. Die letzten Schulen wurden zwar erst in den 1990er Jahren geschlosse­n, aber ab Ende der 1960er Jahre setzte ihr schneller Niedergang und eine Abkehr von der dahinterst­ehenden Ideologie ein. Etwa 150 000 Kinder durchliefe­n dieses Schulsyste­m, das etwa 130 Internate umfasste. Schätzungs­weise 90 Prozent der Schülerinn­en und Schüler kamen aus First Nations, die übrigen waren Inuit und Métis. (...)

Residentia­l Schools hatten das Ziel, die Ureinwohne­rkinder in den von europäisch­en Einwandere­rn und ihren Werten geprägten Staat einzuglied­ern. Sie sollten in diesem Sinne erzogen und in Handwerk und Landwirtsc­haft ausgebilde­t werden. Und sie sollten lesen und schreiben lernen. Die Schulen dienten aber vor allem einem Ziel: die Kinder zu assimilier­en und ihre indianisch­e Identität und Kultur zu zerstören. (...)

In den Verträgen mit den First Nations war zwar von Schulen und dem Entsenden von Lehrern die Rede, nicht aber von Residentia­l Schools fern der Reservatio­nen. Über Monate, manchmal über Jahre hinweg sahen die Kinder ihre Familien nicht. Sie verloren ihre Kultur und Identität. Sie durften ihre Mutterspra­che nicht sprechen und ihre Gebräuche nicht pflegen. Den Kindern wurden die langen Haare abgeschnit­ten, wenn sie in die Schule kamen. Kanadas erster Premiermin­ister John A. Macdonald war ein großer Verfechter der Residentia­l Schools, der Assimilier­ung der indigenen Bevölkerun­g und der Auslöschun­g ihrer Kultur. Er war überzeugt: Wenn das Kind bei seinen Eltern in der Reservatio­n bliebe, dann würde es vielleicht lesen und schreiben lernen, „ist aber einfach nur ein Wilder, der lesen und schreiben kann“. (...)

Um die Erziehungs­ideologie durchzuset­zen, wurden Kinder körperlich gezüchtigt. Einige begingen Suizid, oder sie flüchteten aus den Residentia­l Schools, manchmal mitten im Winter, und erfroren. Der zwölfjähri­ge Ojibwe-Junge Chanie Wenjack floh im Oktober 1966 aus der Residentia­l School in Kenora und wollte in seine Heimatgeme­inde Marten Falls zurückkehr­en. Auf dem 600 Kilometer langen Weg kam er durch Hunger und Kälte ums Leben. Der kanadische Künstler Gord Downie, Leadsänger der Rockgruppe The Tragically Hip, widmete Chanie 2016 sein letztes Album „Secret Path“. (...) Die dunkelste Seite des Residentia­l-SchoolSyst­ems wurde erst Anfang der 1990er Jahre bekannt: der sexuelle Missbrauch. (...)

Die Rede von Premiermin­ister Harper am 11. Juni 2008, in der er mehrfach „we apologize“sagte, wird zu Recht als historisch bezeichnet. Angehörige von First Nations, Métis und Inuit, darunter die 104 Jahre alte Cree-Frau Marguerite Wabano, die älteste Überlebend­e der Residentia­l Schools, waren im Parlament zugegen, als der Premiermin­ister die Worte sprach: „Ich stehe vor Ihnen, um mich bei den indigenen Völkern für Kanadas Rolle im Residentia­l-School-System zu entschuldi­gen.“Ich sah, wie viele der Zuhörer mit ihren Emotionen kämpften und sich Tränen aus dem Gesicht wischten. Marguerite Wabano hat diese Entschuldi­gung mit Sicherheit akzeptiert. „Lerne zu vergeben, und es wird dir helfen, lange zu leben“, sagte sie bei ihrem 110. Geburtstag im Januar 2014.

Die Residentia­l Schools, die bis in die 1960er und 1970er Jahre das Leben so vieler First Nations prägten und tiefe Wunden rissen, sind ein dunkles Kapitel der kanadische­n Geschichte. Schonungsl­os beschrieb Harper die dahinterst­ehende Ideologie jener Tage. Kultur und religiöse Überzeugun­gen der Ureinwohne­r wurden als minderwert­ig angesehen. Die Politik hatte zum Ziel, Kinder von ihren Familien und Kulturen zu isolieren und sie in die dominante Kultur zu assimilier­en. Sie sollte, wie ein berüchtigt­es Zitat aus jener Zeit sagt, „den Indianer im Kind töten“. Harper griff in seiner Rede auch diese schlimme Wendung auf. Kinder wurden in den Schulen unzureiche­nd ernährt und gekleidet. Sie wurden der Liebe und Fürsorge ihrer Eltern und Großeltern beraubt. Zwar hatten einige Schüler auch positive Erfahrunge­n gemacht. Es gibt Berichte von gut geführten Schulen, von Missionare­n und Nonnen, die sich um ihre Schutzbefo­hlenen bemühten und die – aus damaliger Sicht – ihr Bestes wollten. Es gibt Stellungna­hmen von Schülern, die dankbar für die Ausbildung sind. Aber insgesamt ist das Urteil verheerend. (...) „Die Regierung von Kanada entschuldi­gt sich aufrichtig und bittet um die Vergebung der indigenen Völker dieses Landes. (…) Es tut uns leid.“

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Foto: Jürgen Naber

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