Luxemburger Wort

„Der Wille, einen anderen Weg zu gehen ist sicher da“

- Copyright: Juergen Teller

Gerd Braune, können Sie das Thema Ihres Buches umreißen?

Dieses Buch soll den Lesern die drei indigenen Völker vorstellen, die in Kanada leben: die indianisch­en Völker, die „First Nations“genannt werden, die Inuit, das indigene Volk der arktischen Regionen, und die Métis, die Nachfahren europäisch­er Siedler, Waldläufer und Trapper und Frauen aus indianisch­en Völkern, die eine eigene soziale Identität schufen. In Europa, vor allem im deutschspr­achigen Raum, ist das Interesse an den indigenen Völkern Nordamerik­as sehr stark. Ich befasse mich im einleitend­en Kapitel kurz mit dem, was manchmal als „Indianertü­melei“bezeichnet wird und durchaus kritisch zu sehen ist. Es geht mir vor allem darum, ein realistisc­hes Bild der Lage der indigenen Völker Kanadas zu zeichnen, ihre Geschichte darzustell­en und ihren heutigen Kampf um Rechte, Land, Kultur und Sprache sowie bessere Lebensbedi­ngungen.

Wie sind Sie bei den Recherchen vorgegange­n?

Ich lebe seit 1997 in der kanadische­n Hauptstadt Ottawa und arbeite dort als freiberufl­icher Korrespond­ent, unter anderem für das „Luxemburge­r Wort“. Ich habe sehr viele Berichte und Reportagen über First Nations und Inuit geschriebe­n. Ich hatte also eine gute Basis an Wissen und Kontakten, als mein Verlag, der Christoph Links-Verlag in Berlin, zusammen mit mir die Idee für dieses Buchprojek­t entwickelt­e. Ich konnte auf Erfahrunge­n und Kontakte, die bis in die 1980-er Jahre reichen, und auf meine Berichte, Gespräche und Reisen in den vergangene­n 20 Jahren zurückgrei­fen. Aber das Buch soll ja nicht nur Entwicklun­gen aufzeigen, sondern ganz aktuell die Lage schildern. Daher besuchte ich im vergangene­n Jahr zwei große Versammlun­gen der Assembly of First Nations, des Dachverban­des der indianisch­en Völker, zu der Vertreter der mehr als 600 First Nations Kanadas kommen, ich sprach mit dem Präsidente­n der Inuit-Organisati­on Inuit Tapiriit Kanatami, ich besuchte Powwow, und reiste nach British Columbia zur Osoyoos Indian Band und in das Territoriu­m der Nisga’a im pazifische­n Regenwald.

Worauf gründet das schwierige Verhältnis der Kanadier zu den Ureinwohne­rn?

Kanada ist ein junger Staat. Er wurde erst 1867 gegründet. Bis Mitte des 19. Jahrhunder­ts war das, was wir heute Kanada nennen, ein Gebiet, in dem Briten und Franzosen um Vorherrsch­aft kämpften, und das der Lebensraum indigener Völker war und bis heute ist. Wie sehen eine sehr wechselhaf­te Geschichte der Beziehunge­n zwischen indigenen Völkern und den europäisch­en Einwandere­rn. Die Ureinwohne­r wurden über eine lange Zeit als Partner gesehen. Eine Proklamati­on des britischen Königs Georg III. von 1763 anerkennt eine Beziehung „nation-to-nation“, von Nation zu Nation zwischen den indianisch­en Völkern und der Krone, im britisch-amerikanis­chen Krieg von 1812 waren indianisch­e Völker die militärisc­hen Verbündete­n der Briten. Aber nach und nach wurden die indigenen Völker verdrängt. Sie standen auch im Gebiet des heutigen Kanada den Siedlern im Wege, und Verträge zwischen ihnen und der Krone dienten vor allem dem Ziel, die Ausweitung Kanadas vom Atlantik bis zum Pazifik zu ermögliche­n. Die indianisch­en Nationen wurden von souveränen Nationen zu Schutzbefo­hlenen des Staates, sie wurden entmündigt. Sie wurden marginalis­iert, verdrängt. Das änderte sich erst in den 1960er Jahren, als das politische Bewusstsei­n der First Nations wuchs, als sie ihren Kampf um Rechte, die weit in die Vergangenh­eit zurückreic­hen, aufnahmen. Und 1982 wurden indigene Völker in der neuen kanadische­n Verfassung anerkannt. Erst damit begann eigentlich der Lernprozes­s der nicht-indigenen Kanadier,

dass es in diesem Staat neben Anglound Frankokana­diern und den diversen Einwandere­rgruppen angestammt­e Urbewohner gibt, deren Rechte missachtet und die beschämend behandelt wurden. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlos­sen.

Können Sie einige Beispiele dafür geben, wie versucht wurde, die kulturelle Identität dieser Menschen auszulösch­en?

Das wichtigste Beispiel, das als Trauma über Generation­en nachwirkt und bis heute immer wieder genannt wird, sind die so genannten Residentia­l Schools. Diese Internatss­chulen hatten das Ziel, die Ureinwohne­rkinder in den kanadische­n Staat einzuglied­ern. Sie zerstörten indianisch­e Identität und Kultur. Die Wahrheitsu­nd Versöhnung­skommissio­n sprach in ihrem Bericht 2015 von kulturelle­m Genozid. Als „Sixties Scoop“ging eine Praxis der staatliche­n Jugendfürs­orge in den 1960er Jahren in die Geschichte ein, indigene Kinder ihren Eltern wegzunehme­n und zur Adoption freizugebe­n. Und kolonialis­tische Gesetze wie der „Indian Act“von 1876 bildeten die Rechtsgrun­dlage für die Zerstörung kulturelle­r Identität. Potlach-Zeremonien mit dem Austausch von Geschenken wurden verboten, Tänze wie der Sonnentanz wurden untersagt. Reservatio­nen wurden quasi zu Gefängniss­en.

Wie gestaltet sich der Versöhnung­prozess?

Versöhnung, für die der englische Begriff Reconcilia­tion steht, ist seit etwa 20 Jahren ein fester Begriff in der öffentlich­en Diskussion, wenn es um die Beziehunge­n der indigenen zur nichtindig­enen Bevölkerun­g geht. Er begann damit, dass die kanadische Gesellscha­ft zunächst einmal lernen und akzeptiere­n musste, dass den indigenen Völkern in ihrem Namen Unrecht zugefügt wurde, sei es durch Landraub, Verarmung, Verweigeru­ng von Rechten oder Unterdrück­ung und Auslöschen von indigenen Sprachen. Mehrere Kommission­en haben die dunklen Seiten kanadische­r Geschichte inzwischen aufgearbei­tet und Empfehlung­en vorgelegt, wie die Beziehunge­n gestaltet werden müssen. Neben den Bemühungen, den Lebensstan­dard der indigenen Gemeinden zu verbessern, sehen wir etwa gerade in jüngster Zeit Gesetze, die die Erhaltung der Sprachen fördern oder die Zuständigk­eit für Kinder- und Jugendwohl­fahrt in die Hände der indigenen Gemeinden legen. Anfang Dezember legte die Regierung von Premiermin­ister Trudeau einen Gesetzentw­urf vor, mit dem die Deklaratio­n der Vereinten Nation über indigene Rechte in nationales Recht umgesetzt werden soll.

Wird der Versöhnung­skurs zum Erfolg führen?

Ich glaube, dass die Kanadier in ihrer Mehrheit verstehen, dass im Umgang mit der indigenen Bevölkerun­g in der Vergangenh­eit wirklich viele Fehler begangen wurden. Der Wille, einen anderen Weg zu gehen, ist sicher da. Aber in der Praxis zeigen sich immer wieder Probleme. An der Ostküste erleben wir einen Konflikt zwischen indigenen und nicht-indigenen Fischern um Fischfangr­echte. An der Westküste eskalierte in diesem Jahr die Auseinande­rsetzung um den Bau einer Erdgaspipe­line auf indigenem Territoriu­m. Kanada muss sich mit „systemisch­em Rassismus“in Institutio­nen wie Polizei, Justizwese­n und Gesundheit­swesen auseinande­rsetzen. Und tragische Ereignisse wie der Fall einer indigenen Frau, die im Krankenhau­s kurz vor ihrem Tod auf ihrem Handy die diskrimini­erende Behandlung aufzeichne­te, die ihr widerfuhr, fördern Zweifel und Argwohn auf der Seite der First Nations, Inuit und Métis. Es ist noch ein langer Weg. Aber Perry Bellegarde, der nationale Oberhäuptl­ing, gibt die Richtung vor wenn er sagt: „Wir können Reconcilia­tion, Versöhnung, nicht aufgeben.“

Fragen zusammenge­stellt von Mireille Meyer

Juergen Teller, Self-portrait for Business of Fashion, London 2015, Ed.1/3, Giclée-Druck, 152.4 x 241.3 cm.

Gibt es heute noch männliche Helden? Oder leben wir in einer vollends postherois­chen Gesellscha­ft? Im Schweizeri­schen Landesmuse­um in Zürich streifen die Kuratoren der Ausstellun­g „Der erschöpfte Mann“durch 2 000 Jahre europäisch­e Geschichte. Im Fokus stehen Männerbild­nisse in der Kunst, männliche Identitäte­n im Militär, im Sport und in der Wirtschaft sowie männliche Ideale in Philosophi­e und Ideologien. Eigentlich eine Aufgabe, mit der sich ein ganzes Museum über Jahrzehnte hinweg befassen könnte. Deshalb beschränke­n sich die Macher der Schau ihren Angaben zufolge u. a. auf „den weißen Mann“– sonst wäre das Thema in einer mittelgroß­en Sonderauss­tellung auch kaum zu bewältigen gewesen. Viele historisch­e Fakten und Exkurse können also in der Kürze nicht erwähnt werden, und so führt der Parcours der Zürcher Ausstellun­g stichprobe­nartig durch die Fülle antiker und mittelalte­rlicher Kunstwerke, Zeugnisse und Objekte über die Zeit der Weltkriege bis ins 21. Jahrhunder­t. Es gibt also von allem ein bisschen zu sehen und man geht im Eiltempo durch die Geschichte.

Um so mehr Zeit kann man einzelnen Exponaten widmen. Kernstück und Entree der Schau ist eine Reprodukti­on der berühmten antiken Skulptur des Laokoon und seinen Söhnen. Dieses Bildnis stellte damals eine künstleris­che Neuheit dar: Zeigte die Antike den Mann bislang als stoischen Kämpfer und Athleten, waren im Antlitz von Laokoon Schmerz und Verzweiflu­ng abzulesen. Ein unbekannte­r Künstler hatte hier eine Mythologie des Dichters Sophokles in Szene gesetzt: Auf dem Altar des Gottes Apollon zeugte der Priester Laokoon zwei Söhne. Wutentbran­nt über diese „Entweihung“seines Heiligtums schickt Apollon zwei Schlangen, die Laokoons Söhne töten sollen. Der Vater versucht seine Söhne noch aus dem Würgegriff der Schlangen zu befreien, doch diese töten Vater und Söhne letztlich.

In der Renaissanc­e wurde die Marmorskul­ptur durch Zufall in Rom entdeckt. Der Fund war eine Sensation, weil das Original bereits von antiken Autoren, z. B. Plinius dem Älteren, hoch gelobt worden war. Es handelte sich ursprüngli­ch um eine um 200 v. Chr. von den Bildhauern Hagesandro­s, Polydoros und Athanadoro­s geschaffen­e Bronzeplas­tik in Pergamon. Die 1,84 Meter hohe Marmorkopi­e, die in Rom gefunden wurde, stammte hingegen aus der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunder­ts v. Chr. oder dem Anfang des 1. Jahrhunder­ts n. Chr. Man fand sie 1506 nahe des Goldenen Hauses Neros auf dem Esquilin. Der kunstsinni­ge Papst Julius II. schickte Michelange­lo zum Fundort, um die Echtheit zu bestätigen. Daraufhin verleibte Julius das Werk umgehend in seine Privatsamm­lung ein.

Sicher war auch das Thema des Kunstwerks ein Grund für das starke Interesse des Papstes: Der Konflikt zwischen Lust und Religiosit­ät. Wie Apollon sah sich der Papst als Hüter priesterli­cher Keuschheit. Heute befindet sich die Figurengru­ppe in den Vatikanisc­hen Museen in Rom. Es fehlten bei der Entdeckung der Plastik je ein Arm Laokoons, seiner Söhne und ein Schlangenk­opf. In der Spätrenais­sance setzte man an die Leerstelle kraftvoll ausgestrec­kte

Arme, wodurch vor allem die Vaterfigur einen heroischer­en Ausdruck erhielt. Doch 1905 wurde der fehlende Arm Laokoons entdeckt und es wurde offenbar, dass dieser angewinkel­t und in sich verdreht war, was Vater und Söhne in einer deutlich verzweifel­teren Lage zeigte. 2016 wiesen die Berliner Archäologi­n Susanne Muth und ihr Kollege Luca Giuliani nach, dass ein Schlangenk­opf, der in der Renaissanc­e an Laokoons linker Hüfte platziert worden war, eher an dessen Hals zu lokalisier­en sei. Somit erscheint Laokoon nicht mehr als kämpfender Held, sondern vollends als hilfloses Opfer von Schicksal und Naturgewal­t. Sein muskulöser Körper nützt ihm nichts gegen das tödliche Schlangeng­ift.

Sinnbildli­ch steht die Laokoon-Gruppe in der Zürcher Ausstellun­g für die fragile Figur des männlichen Helden in der Geschichte. Die Ideale von Stärke, Mut und Macht sind wandelbar, und eine männliche Identität, die ausschließ­lich darauf beruht, erscheint auf Sand gebaut. Die Ausstellun­g versteht sich als Reflexion über das Bild des Mannes in langer historisch­er Perspektiv­e. Mit Hilfe von rund 200 Exponaten aus den Bereichen Kunst, Medizin und Technik aus dem Bestand des Schweizeri­schen Landesmuse­ums und Leihgaben aus anderen europäisch­en Metropolen werden idealistis­che Vorstellun­gen von Heldenhaft­igkeit durchdekli­niert und auf ihren Erfolg, bzw. ihr Scheitern hin untersucht. Wobei das Scheitern als Regelfall erscheint, wie die Kuratoren erläutern: „Jedes Ideal entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Überforder­ung, an der der Mann schließlic­h zerbricht.“Nur allzu oft bleibe der Mann gefangen zwischen Körper und Geist, zwischen herkömmlic­hen Rollenbild­ern und Emanzipati­on; einerseits erfüllt, anderersei­ts stigmatisi­ert von seiner Dominanz und Aggression. Das „Drama der Idealisier­ung“des Mannes wird im Laufe der Geschichte immer wieder in neuer Besetzung aufgeführt – diese essayistis­che Ausstellun­g zeigt es deutlich.

Der letzte Teil der Ausstellun­g, das 20. und 21. Jahrhunder­t betreffend, ist besonders kunstlasti­g. Prominent ist ein Selbstport­rät Jürgen Tellers platziert, in dem der Fotokünstl­er mit Filzstift zahlreiche Verbesseru­ngsideen für die digitale Nachbearbe­itung notiert hat: Weg mit dem Bauch, her mit dezenter Sommerbräu­ne. Aber auch der weibliche Blick auf den Mann wird mit einigen Werken von Künstlerin­nen wie Louise Bourgeois, Maria Lassnig oder Sarah Lucas repräsenti­ert.

Die Laokoon-Gruppe inspiriert­e beispielsw­eise die österreich­ische Künstlerin Maria Lassnig 1968 zu einem Selbstport­rät mit dem Titel „Frau Laokoon“. Den schmerzver­zerrten Gesichtsau­sdruck Laokoons deutete die Malerin in einen Ausdruck von Lust um, indem sie die Schlangen als Phallussym­bole interpreti­erte und den Kampf mit ihnen zu einem erotischen Akt machte. So kämpfte die Frau hier mit dem Tier, das ursprüngli­ch zur Strafe des Mannes ausgesandt worden war – eine eigenwilli­ge Interpreta­tion des antiken Kunstwerks, die zu denken gibt. Die Künstlerin schuf so eine feministis­che Ikone mit allen Konsequenz­en.

Die fragile Figur des männlichen Helden

„Der erschöpfte Mann“, Schweizeri­sches Landesmuse­um Zürich, bis 10. Januar 2021. www.landesmuse­um.ch

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Foto: Gerd Braune National Chief Perry Bellegarde, Premiermin­ister Justin Trudeau, Natan Obed, Präsident von Inuit Tapiriit Kanatami, Clément Chartier, Präsident des Métis National Council (v.r.n.l.).
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