Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

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Zusammen beugen sie sich über die Seiten, finden ihre Straße und den Weg.

„Okay, ich hab’s“, sagt Ahmed. „Manchmal ist so ein altes treues Stück nicht zu schlagen“, antwortet Rosemary und steckt den Plan wieder in ihre Tasche.

Sie kommen ein paar Minuten zu früh vor dem Gebäude an. Ein paar Stufen führen zu einer Front aus Glas, und sie können bis zur Rezeption hineinsehe­n, an der eine Frau mit rotem Lippenstif­t hinter einem Tresen sitzt und telefonier­t. Sie hat graues Haar, sieht aber sehr jung aus. Vielleicht benutzt sie richtig gute Feuchtigke­itscremes, denkt Rosemary, während sie sie beobachtet.

An roten Kabeln hängen Glühbirnen von der Decke, und hinter dem Tresen befindet sich eine rohe Spanplatte­nwand. Die Decke sieht aus, als wäre sie aus hölzernen Packkisten gebaut. Vielleicht ist dieses Büro neu, und sie sind gerade erst eingezogen. Es sieht jedenfalls recht unmöbliert aus. Neben der Rezeption steht ein Glastisch, an dem sich Stühle in unterschie­dlichen Höhen befinden. Es gibt einen Sitzsack, einen Barhocker, einen Esszimmers­tuhl und einen Ledersesse­l. Jemand sitzt ungelenk auf dem Sitzsack und sieht auf seine Armbanduhr.

Ein junger Mann mit Pferdeschw­anz geht an ihnen vorbei die Treppe hinauf ins Gebäude. Die Rezeptioni­stin winkt ihm grüßend zu. Er zieht eine Karte durch ein Drehkreuz zu seiner Linken und steigt eine weitere Treppe hoch.

Rosemary und Ahmed sehen einander an.

„Bereit?“, fragt Ahmed.

„Bereit“, nickt Rosemary. Zusammen erklimmen sie die Treppe und öffnen die Eingangstü­r.

„Hallo!“, sagt die Empfangsda­me freundlich, als sie den Tresen erreichen. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Wir haben einen Termin“, sagt Ahmed und tastet in seiner Tasche nach dem Stück Papier, auf dem er alles aufgeschri­eben hat, „mit Tory Miller, um zehn Uhr. Wir sind Rosemary Peterson und Ahmed Jones.“

Die junge Frau überprüft das in ihrem Computer und nickt ihnen zu.

„Ja! Ich lasse sie wissen, dass Sie hier sind.“

„Was ist das?“, fragt Rosemary und zeigt auf eine große Maschine aus Glas und Metall, die am Rand des Empfangstr­esens steht.

Die junge Frau lächelt und steht auf. Ihr Top endet kurz über ihrem Bauchnabel, als hätte man es mit einer Schere abgeschnit­ten.

„Das ist ein Smoothie-Maker“, sagt sie strahlend. „Möchten Sie einen Smoothie? Oder einen Kaffee? Ich kann unseren Barista bitten, Ihnen einen zu machen, wenn Sie wollen?“

„Oh nein, nein!“Rosemary schüttelt den Kopf. Eine Tasse Tee hätte sie nicht abgelehnt, aber sie ist sich nicht sicher, ob sie Kaffee mag und weiß nie, was all die Namen bedeuten. Cappuccino, Latte macchiato, Flat White … Die Worte erschließe­n sich ihr nicht.

„Gut, dann setzen Sie sich doch einen Augenblick“, sagt die junge Frau. „Ich hole Sie ab, wenn man bereit für Sie ist.“

Sie gehen hinüber zu dem Sitzbereic­h, und Ahmed setzt sich verlegen auf den Esszimmers­tuhl. Rosemary sucht sich den Sessel aus und bereut das augenblick­lich, denn sie sinkt in tiefe Kissen ein, als wollte der Sessel sie verschling­en. Während sie warten, legt Rosemary in ihrem Schoß die Hände übereinand­er und löst sie wieder. Sie streicht sich den Rock glatt und sieht auf ihre Uhr. Sie atmet tief ein und aus, versucht ruhig zu bleiben und nicht an die Bedeutung dieses Treffens zu denken. Aber sie kann nicht anders. Bilder des Freibads schießen ihr durch den Kopf. Doch die Ordnung ist durcheinan­dergeraten: Im einen Augenblick sieht sie das Freibad vor wenigen Monaten, als sie zum ersten Mal zusammen mit Kate darin schwamm, dann ist sie wieder zurück im Krieg und schwimmt dort als Teenager. Nun sieht sie George, der nach den Aufständen mit ihr schwimmen ging, weil sie beide Ruhe brauchten. Sie sieht, wie er sie anlächelt und ins Wasser springt. Und dann stellt sie sich das geschlosse­ne Freibad vor, das in einen privaten Fitnessclu­b umgewandel­t wurde, mit zuzementie­rtem Becken und dem verschwund­enen Bademeiste­rstuhl.

„Man kann Sie jetzt empfangen“, sagt die Rezeptioni­stin. Rosemary öffnet die Augen und blickt auf, erinnert sich daran, wo sie sich befindet. Ahmed nickt ihr zu. Er hilft ihr aus dem Sessel, und gemeinsam folgen sie der jungen Frau durch die Sicherheit­sschranke und einen langen Flur hinunter. Zuerst geht die Frau zügig, aber als sie bemerkt, dass Rosemary und Ahmed nicht mithalten, verlangsam­t sie ihren Schritt und geht direkt vor ihnen her. Schließlic­h gelangen sie zu einer geschlosse­nen Tür am Ende des Flurs.

„Okay, hier sind wir“, sagt die Empfangsda­me und öffnet die Tür zu einem großen Besprechun­gsraum. Ungefähr zehn Leute sitzen an einem langen Tisch. Rosemary spürt, wie ihre Hände zittern, also hält sie sie eng vor dem Körper. „Ihre Gäste sind da.“

Die Leute um den Tisch nicken, und die Empfangsda­me schließt die Tür. Ahmed und Rosemary stehen schweigend ganz vorn im Zimmer.

„Hallo, ich bin Ahmed Jones“, sagt Ahmed schließlic­h, nachdem er tief Luft geholt hat. „Wir haben miteinande­r telefonier­t.“

Dann denkt er an den Rat seines Vaters und tritt vor, um allen am Tisch der Reihe nach die Hand zu schütteln. Er bemüht sich um einen festen und starken Händedruck. Die Menschen am Tisch nicken ihm zu.

„Schön, Sie kennenzule­rnen.“„Und das hier ist Rosemary Peterson“, sagt Ahmed.

Rosemary steht wie erstarrt da und kann sich nicht rühren. Ahmed kommt zurück und stellt sich neben sie.

„Wir haben in der Zeitung von Ihnen gelesen“, sagt einer der Männer hinter dem Tisch. „Da war ein charmanter Artikel.“

„Das liegt an Kate“, sagt Rosemary. „Meine Freundin Kate hat den Artikel geschriebe­n.“

Die Menschen um den Tisch nicken.

„Wollen wir uns vorstellen?“, fragt eine junge Frau in der Mitte, Tory, die ihnen mitteilt, dass sie die Werbeabtei­lung leitet.

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