Keine „splendid isolation“
Eigentlich lieben die Briten ihre Abgeschiedenheit. Ihr Misstrauen gegenüber dem europäischen Kontinent hat eine lange Tradition. Es war unter anderem auch der Zustrom von Ausländern, der zahlreiche Briten im Juni 2016 dazu bewog, ihr Kreuz beim EU-Austritt zu machen.
Doch mit der Entwicklung der vergangenen Tage sind die Briten plötzlich isolierter, als vielen von ihnen lieb ist. Der Eurotunnel wurde geschlossen, der Flug- und Fährverkehr ist unterbrochen, in der südostenglischen Grafschaft Kent stauen sich die Lastwagen kilometerweit. Grund für die ganze Aufregung ist eine Mutation des Sars-CoV-2Virus, vor der sich andere Länder schützen wollen – was durchaus verständlich ist. Allerdings soll die neue Variante bereits seit Ende September in England grassieren und ihren Weg auf das Festland schon gefunden haben.
Die britische Presse hat sich – wie immer – auf die böse EU eingeschossen. Das ist einfacher, als nach den wahren Gründen für das Debakel zu suchen. Obwohl die Zahl der Neuinfektionen und Corona-Toten im Südosten Englands seit Wochen in die Höhe schoss, widersetzte sich Boris Johnson einer notwendigen Verschärfung der Maßnahmen und versprach seinen Landsleuten vor einigen Tagen noch ein Weihnachtsfest im Familienkreis. Erst am Wochenende bequemte sich der Premier, die Notbremse zu ziehen. Dabei kam ihm die Virus-Mutation gerade recht – als Entschuldigung für seine Kehrtwende.
Der verschärfte Shutdown hat zwei Folgen. Erstens stürmten die Londoner die Bahnhöfe, um noch rechtzeitig den letzten Zug aus der Hauptstadt zu erwischen. Abstandhalten? Fehlanzeige. Zweitens haben die Menschen nun noch mehr ihr Vertrauen in die Regierung verloren. Im Alltag reichen coole Sprüche und clownesque Auftritte eben nicht aus, um ein Land von 68 Millionen Bürgern verantwortungsvoll zu führen.
Ob er mit seiner Entscheidung auch so lange gewartet hatte, bis dass das Parlament im Weihnachtsurlaub war, wird das Geheimnis des Mannes aus Downing Street 10 bleiben. Fakt ist jedoch, dass der Beschluss zu spät kam. Wie Labour-Chef und Oppositionsführer Keir Starmer am Sonntag bei einer Pressekonferenz mutmaßte, wollte der Regierungschef sich nicht unbeliebt beim Volk machen.
Allerdings ist es nicht die Aufgabe von Politikern, ihr Fähnchen nach dem Wind zu hängen und nur Entscheidungen zu treffen, die der Bevölkerung munden. Besonders in Krisenzeiten müssen die Gewählten Rückgrat beweisen und das tun, was im Interesse des Landes ist.
A propos Interesse des Landes: Die Staus an den Grenzen und mögliche Versorgungsengpässe geben einen Vorgeschmack auf das Brexit-Chaos ab dem 1. Januar 2021, falls es in letzter Minute nicht doch noch zu einem Handelsabkommen zwischen London und Brüssel kommt. Großbritannien stehen nicht nur ein trostloses Weihnachtsfest, sondern auch Jahre voller Unsicherheit und Entbehrungen bevor. Kein Wunder, dass vielen Briten nicht zum Feiern zumute ist. Nur sollten sie dafür den wahren Schuldigen ausmachen. Und ihre Konsequenzen ziehen.
Plötzlich sind die Briten isolierter, als vielen von ihnen lieb ist.
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