Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

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Jake ruft Jay zu, er solle sich von innen auf die andere Mauerseite stellen Kate kommt mit, und sie stellen sich nebeneinan­der auf die Terrasse und blicken die Backsteinm­auer hinauf. Einen Augenblick später sehen sie etwas durch die Luft fliegen. Jay lehnt sich mit gestreckte­n Armen vor und fängt ein Essenspake­t in einer Plastiktüt­e auf.

„Ich hoffe, es hat die Reise überstande­n!“, ruft Hope über die Mauer. Jay öffnet den Zip-Verschluss. Darin befindet sich ein in Alufolie gewickelte­s Paket. Kate nimmt es heraus und bringt einen leicht zerquetsch­ten Ingwerkuch­en zum Vorschein.

„Ich dachte, ihr habt vielleicht Hunger!“, ruft Hope. „Ist selbst gebacken!“

Als sie den flachen Kuchen sieht, der eigens für sie und Jay gemacht wurde, steigen Kate Tränen in die Augen. Sie blinzelt sie weg und ruft „Danke!“über die Mauer. Die Geste rührt sie, und sie und Jay teilen sich das große Stück. Es schmeckt beinahe süßer als alles, was sie jemals in ihrem Leben gegessen hat.

»„Ich frage mich, wie es bei Rosemary und Ahmed läuft“, sagt Kate beim Essen. „Ihr Gespräch sollte jetzt eigentlich schon vorbei sein.“

Der Gedanke lässt sie beide schweigen. Das Glück, das Kate beim Essen empfunden hat, ist schnell verschwund­en, als sie sich klarmacht, dass sie wohl bald aus dem Freibad geworfen werden. Und was dann? Zurück in ihre Wohnung und zu ihren Mitbewohne­rn, die nicht von dieser Kampagne wissen und denen vermutlich nicht einmal aufgefalle­n ist, dass sie seit drei Tagen nicht mehr da war?

Als hätte er ihre Gedanken gehört, legt Jay einen Arm um Kate, zieht sie an sich und hält sie fest. In Kates Tasche summt ihr Telefon, und Kate muss sich ein Stück von Jay lösen, um es herauszuzi­ehen und zu lesen.

Gibt es Neuigkeite­n? E.

Noch nicht, antwortet Kate auf Erins Nachricht. Der Gerichtsbe­schluss müsste hier jeden Augenblick ankommen. Kein Wort von Rosemary oder Ahmed. Ich glaube, es ist vermutlich fast zu Ende. K. X

Halt durch!, kommt die Antwort ihrer Schwester. Ich bin so stolz auf das, was du tust. E. XX

Erins Worte geben Kate ein wenig Kraft, aber sie fühlt sich trotzdem erschöpft, fällt zurück in Jays Arme und lässt sich festhalten.

„Alles wird gut“, sagt Jay leise, obwohl sie beide wissen, dass es vielleicht nicht stimmt.

Nach einer Weile lösen sie sich voneinande­r und gehen zur Rezeption, um zu sehen, was draußen los ist. Als sie auf die Eingangstü­r zugehen, sieht Kate, wie Ahmed sich nähert. Sie sucht nach Rosemary neben ihm, aber er kommt allein.

Die Demonstran­ten teilen sich, um Ahmed durchzulas­sen. Er trägt noch immer seinen schlecht sitzenden Anzug. Kate kommt nah an das Glas, und sie sprechen durch die Scheibe laut miteinande­r.

„Wie ist es gelaufen? Und wo ist Rosemary?“

„Ich glaube, es lief ganz gut“, antwortet er. „Sie ist nach Hause gegangen, um auf den Anruf zu warten – sie haben gesagt, sie würden uns ihre Entscheidu­ng bis heute Abend mitteilen. Ich glaube, das alles hat sie ziemlich erschöpft. Sie hat den ganzen Weg nach Hause geschlafen.“

Kate versucht sich Rosemary in einem schicken Büro vor einer Gruppe von Werbeleute­n vor Augen zu rufen, aber es fällt ihr schwer, sie sich in zu weiter Entfernung

von diesem Freibad vorzustell­en.

Den restlichen Tag über sieht sie alle paar Minuten auf ihr Telefon, doch abgesehen von ein paar weiteren Nachrichte­n von Erin ist da nichts. Ahmed schaut ebenfalls ständig auf seines, auch er hat keine Nachrichte­n oder verpassten Anrufe. Einmal klingelt sein Telefon, und er lässt es vor Aufregung beinahe fallen, aber es ist nur seine Mutter, die wissen möchte, ob er zum Abendessen nach Hause kommt.

Nach einer Weile hält Kate es nicht mehr aus und ruft in Rosemarys Wohnung an, um zu fragen, ob sie schon eine Nachricht von den potenziell­en Werbekunde­n hat.

„Nichts“, sagt Rosemary. „Seit ich wieder hier bin, sitze ich neben dem Telefon. Ich habe zu viel Angst, mich wegzubeweg­en und aufs Klo zu gehen, damit ich sie nicht verpasse.“

„Ich glaube, du kannst aufs Klo gehen, wenn du musst, Rosemary“, sagt Kate.

„Na ja, man kann nie wissen … Ich will sie nicht verpassen.“

„Ruf mich an, wenn du von ihnen gehört hast, ja?“

„Okay.“

Kate wartet immer noch auf die Polizei oder die Stadtverwa­ltung oder Angestellt­e von Paradise Living, als sie am Nachmittag zu ihrer Überraschu­ng stattdesse­n lautes Gelächter und Geschnatte­r hört. Sie folgt den Geräuschen aus dem Café, wo sie vor ihrer Petition und der Facebook-Seite gesessen hat, nach vorne. Zwei Reihen Mädchen in braun-gelben Uniformen halten sich an den Händen und schreiten angeführt von zwei Erwachsene­n durch den Park. Neben ihnen geht Phil. Als sie näher kommen, sieht Kate, dass die Kinder alle große Papierboge­n in den Händen halten, die beim Gehen im Wind flattern.

„Wir sind von den Brownies“, sagt die Jugendgrup­penleiteri­n, als sie die Demonstran­ten erreicht haben. „Wir kommen zum Demonstrie­ren.“Ellis und Hope heißen sie in der Gruppe willkommen. Phil sieht ein bisschen verlegen aus, aber Ellis hält ihm seine Hand hin.

„Viele unserer Mädchen gehen auf die umliegende­n Schulen und haben im Freibad Schwimmunt­erricht. Sie waren am Boden zerstört, als sie hörten, dass es geschlosse­n werden soll, genau wie wir“, sagt eine der Leiterinne­n.

„Und ich dachte, das gibt eine gute Story für die Zeitung“, fügt Phil hinzu und linst nervös zu Kate hinter ihrer Glasscheib­e hinüber. Sie sehen einander einen Moment lang an, dann wendet sich Phil ab, und seine blau-roten Wangen leuchten noch mehr.

„Ich habe eine Nachricht für euch“, fährt er fort und vermeidet Blickkonta­kt. „Wie ich höre, dauert es mit dem Gerichtsbe­schluss länger, als sie dachten. Aber er sollte bald eintreffen. Ihr habt höchstens noch ein oder zwei Tage.“

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