Einzig-artig statt artig
Vom Umgang der Erwachsenen mit ihren Kindern
Dieser Spruch, den ich vor einiger Zeit in den sozialen Medien gelesen habe, geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Laut Duden bedeutet artig: Sich so verhaltend, wie es Erwachsene von einem Kind erwarten; sich gut und folgsam benehmend.
Anders formuliert: „Das Kind darf nicht so sein, wie es möchte, sondern muss den Vorgaben anderer Personen entsprechen.“Wenn wir in diesem Satz nur ein Wort ändern würden, zum Beispiel „Kind“durch „Frau“oder „Schwarzer“ersetzen würden, dann wäre für jeden klar, dass es sich hier um eine frauenfeindliche beziehungsweise rassistische Aussage handeln würde. Wieso ist diese Haltung gegenüber Kindern, also jungen Menschen, in unserer Gesellschaft immer noch vorhanden und oft sogar erwünscht? Sind Kinder keine Menschen? Und müssten die Schwächsten unserer Gesellschaft nicht besonders gut behandelt werden? Warum gibt es Menschenrechte und Kinderrechte, wenn wir in unserer Gesellschaft noch immer das Bild vom artigen Kind aufrechterhalten, anstatt uns über die Einzigartigkeit eines jeden jungen Menschen zu freuen?
Es geht nicht um Laissez-faire
Selbstverständlich ist es für Erwachsene einfacher, mit artigen Kindern zu leben und zu arbeiten. Dennoch stellt sich die berechtigte Frage, ob es in einer demokratischen Gesellschaft Ziel sein kann und darf, andere Menschen, in diesem Fall junge Menschen, einem fremden Willen zu unterwerfen und deren eigenen Willen zu unterdrücken und sogar zu bestrafen? In einer Diktatur ist es für den Diktator auch einfacher, seinen Willen und seine Vorstellungen durchzusetzen, als für den Staatschef in einer Demokratie. Welches Verhältnis wollen wir zu unseren Söhnen und Töchtern aufbauen, jenes vom „solange du die Füße unter meinen Tisch stellst“oder doch eher ein gleichwürdiges Verhältnis? Und ich möchte ausdrücklich betonen, dass ich hier keineswegs von einem Laissezfaire-Stil spreche, sondern von einer Haltung „Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem andern zu“.
Das Bild des artigen Kindes ist immer noch in den Köpfen der Erwachsenen allgegenwärtig. Dies erkennt man an den gängigen Aussagen wie „Schläft es schon durch?“, „Ist es schon trocken?“oder später „Ist es brav in der Schule?“, „Hat es gute Noten?“und ähnliche. Solche Aussagen machen dem jungen Menschen indirekt klar: „Du bist nur gut, wenn du den Erwartungen der Erwachsenen entsprichst.“Wenn das die eigenen Eltern erwarten, bedeutet dies: „Ich liebe dich, aber ich würde dich noch mehr lieben, wenn …“.
Der deutsche Neurobiologe Gerald Hüther sagt, dass ein Kind, das so zum Objekt gemacht wird, nur auf zwei verschiedene Art und Weisen reagieren kann: Entweder macht es die anderen Menschen auch zu Objekten mit Aussagen oder Gedanken wie „blöde Mama, blöder Papa“oder es macht sich selbst zum Objekt und sagt sich: „Ich bin blöd oder ich bin nicht gut genug.“So oder so verliert es den Glauben an sich selbst, an seine eigene Würde und an die eigenen Fähigkeiten.
Richtig machen gibt es nicht
Viele der heutigen Erwachsenen sind aber entsprechend der Haltung des artigen Kindes behandelt und erzogen worden und fragen sich „Wie können wir es richtig machen“? Der dänische Familientherapeut Jesper Juul beantwortet diese Frage so: „Gar nicht! Richtig gibt es nicht! Wir können uns aber fragen: Was wollen wir? Und dann versuchen, in diese Richtung zu gehen.“Natürlich werden wir auf diesem Weg Fehler machen, aber wir sollten versuchen, unsere Kinder gleichwürdig zu behandeln, und sie in ihrer Einzigartigkeit zu lieben und zu schätzen, anstelle sie zu artigen Kindern zu erziehen. Es würde uns im Traum nicht einfallen zu unserem Lebenspartner oder unseren Freunden zu sagen: „Wenn du dein Gemüse nicht isst, bekommst du keinen Nachtisch“, oder „Wenn du dich so anziehst, dann nehme ich dich nicht mit“. Wenn wir dies nicht zu Erwachsenen sagen, gibt es keinen Grund, es zu unseren Kindern zu sagen.
Wir wünschen, dass unsere Töchter und Söhne zu selbstständigen, kritisch denkenden Erwachsenen heranwachsen, aber in jungen Jahren erwarten wir, dass sie artig und folgsam sind. In diesem Punkt sind auch unsere Bildungseinrichtungen gefordert, die noch viel zu viel den jungen Menschen vorschreiben, was sie wann mit wem und wie zu lernen haben.
Der kanadische Bildungswissenschaftler Thierry Pardo sagt dazu folgendes: „Ein Kind, das auf eine Regelschule geht, entscheidet sich normalerweise nicht dafür. Es wählt weder den Stundenplan, noch den Schulkalender, noch den Lehrplan aus.
Es sucht sich seine Klasse nicht aus, es sucht sich seinen Platz nicht aus und es sucht sich seine Klassenkameraden nicht aus. Es wählt weder seinen Lehrer noch die Lernmethoden. Es entscheidet nicht, ob, wann und wie es bewertet wird. Und es wählt nicht die Farbe des Stiftes, mit dem es bewertet werden soll.“
Sollten junge Menschen gegen diese Methodik, oder soll ich sagen, Bevormundung rebellieren, wird mit Sanktionen wie Punkteabzug, schlechter Bewertung beim Benehmen, Time-Out, „Heure de réflexion“, usw. bis hin zum Schulverweis reagiert. Kritisches Denken ist nur erlaubt, solange es die Institution Schule und ihre Methoden nicht in Frage stellt, und solange es den Erwartungen der Erwachsenen gerecht wird. Durch welches Wunder glauben wir, dass ein junger Mensch unter diesen mehrjährig andauernden Bedingungen, unabhängig ob in der Schule oder in der Familie, zu einem freien und kritischen Bürger heranwächst?
Wie sollen Menschen, also eben auch Politiker, heranwachsen, die offen ihre Meinung sagen und nicht artig den Vorgaben von Gesellschaft beziehungsweise Partei folgen? Wie soll eine Streitkultur im öffentlichen Leben entstehen, in der jeder seine Meinung sagen kann, ohne herabwürdigend behandelt zu werden, mit dem Ziel einen für jeden akzeptablen Konsens zu finden, wenn wir das nicht im Umgang mit unseren jungen Menschen von Anfang an üben und vorleben?
Seelische Gewalt
Jede Art von Bevormundung, und wenn sie auch noch so gut gemeint ist, ist eine Form von seelischer Gewalt. Erziehung ist ebenfalls Bevormundung. Und im Moment ist unsere Gesellschaft auf artige Kinder angewiesen. Morgens artig schnell anziehen und essen, damit Mutter oder Vater die Zöglinge rechtzeitig in der Betreuungsstruktur abgeben können, da die Eltern arbeiten. Dann artig in die Schule gehen, später artig die Hausaufgaben machen um anschließend artig den, meistens von den besorgten Eltern aufgeschwatzten, doch so wichtigen Freizeitbeschäftigungen als Ausgleich zu dem anstrengenden Tag nachzugehen. Einzigartigkeit ist bei so einem getakteten Leben unbequem und lästig.
Vielleicht liegt genau hier die Ursache für die immer größer werdende Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft. Gewalt, egal ob physische oder psychische Gewalt, erzeugt immer wieder neue Gewalt. Wollen wir diesen Teufelskreis der Gewalt durchbrechen, müssen wir uns dringend der Frage stellen, was uns wichtiger ist: Artige junge Menschen oder doch lieber einzigartige?
Der Autor ist Lehrer im Sekundarunterricht und aktives Mitglied der ALLI asbl (Association luxembourgeoise pour la liberté d'instruction)