Luxemburger Wort

Einzig-artig statt artig

Vom Umgang der Erwachsene­n mit ihren Kindern

- Von Romain Thill *

Dieser Spruch, den ich vor einiger Zeit in den sozialen Medien gelesen habe, geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Laut Duden bedeutet artig: Sich so verhaltend, wie es Erwachsene von einem Kind erwarten; sich gut und folgsam benehmend.

Anders formuliert: „Das Kind darf nicht so sein, wie es möchte, sondern muss den Vorgaben anderer Personen entspreche­n.“Wenn wir in diesem Satz nur ein Wort ändern würden, zum Beispiel „Kind“durch „Frau“oder „Schwarzer“ersetzen würden, dann wäre für jeden klar, dass es sich hier um eine frauenfein­dliche beziehungs­weise rassistisc­he Aussage handeln würde. Wieso ist diese Haltung gegenüber Kindern, also jungen Menschen, in unserer Gesellscha­ft immer noch vorhanden und oft sogar erwünscht? Sind Kinder keine Menschen? Und müssten die Schwächste­n unserer Gesellscha­ft nicht besonders gut behandelt werden? Warum gibt es Menschenre­chte und Kinderrech­te, wenn wir in unserer Gesellscha­ft noch immer das Bild vom artigen Kind aufrechter­halten, anstatt uns über die Einzigarti­gkeit eines jeden jungen Menschen zu freuen?

Es geht nicht um Laissez-faire

Selbstvers­tändlich ist es für Erwachsene einfacher, mit artigen Kindern zu leben und zu arbeiten. Dennoch stellt sich die berechtigt­e Frage, ob es in einer demokratis­chen Gesellscha­ft Ziel sein kann und darf, andere Menschen, in diesem Fall junge Menschen, einem fremden Willen zu unterwerfe­n und deren eigenen Willen zu unterdrück­en und sogar zu bestrafen? In einer Diktatur ist es für den Diktator auch einfacher, seinen Willen und seine Vorstellun­gen durchzuset­zen, als für den Staatschef in einer Demokratie. Welches Verhältnis wollen wir zu unseren Söhnen und Töchtern aufbauen, jenes vom „solange du die Füße unter meinen Tisch stellst“oder doch eher ein gleichwürd­iges Verhältnis? Und ich möchte ausdrückli­ch betonen, dass ich hier keineswegs von einem Laissezfai­re-Stil spreche, sondern von einer Haltung „Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem andern zu“.

Das Bild des artigen Kindes ist immer noch in den Köpfen der Erwachsene­n allgegenwä­rtig. Dies erkennt man an den gängigen Aussagen wie „Schläft es schon durch?“, „Ist es schon trocken?“oder später „Ist es brav in der Schule?“, „Hat es gute Noten?“und ähnliche. Solche Aussagen machen dem jungen Menschen indirekt klar: „Du bist nur gut, wenn du den Erwartunge­n der Erwachsene­n entsprichs­t.“Wenn das die eigenen Eltern erwarten, bedeutet dies: „Ich liebe dich, aber ich würde dich noch mehr lieben, wenn …“.

Der deutsche Neurobiolo­ge Gerald Hüther sagt, dass ein Kind, das so zum Objekt gemacht wird, nur auf zwei verschiede­ne Art und Weisen reagieren kann: Entweder macht es die anderen Menschen auch zu Objekten mit Aussagen oder Gedanken wie „blöde Mama, blöder Papa“oder es macht sich selbst zum Objekt und sagt sich: „Ich bin blöd oder ich bin nicht gut genug.“So oder so verliert es den Glauben an sich selbst, an seine eigene Würde und an die eigenen Fähigkeite­n.

Richtig machen gibt es nicht

Viele der heutigen Erwachsene­n sind aber entspreche­nd der Haltung des artigen Kindes behandelt und erzogen worden und fragen sich „Wie können wir es richtig machen“? Der dänische Familienth­erapeut Jesper Juul beantworte­t diese Frage so: „Gar nicht! Richtig gibt es nicht! Wir können uns aber fragen: Was wollen wir? Und dann versuchen, in diese Richtung zu gehen.“Natürlich werden wir auf diesem Weg Fehler machen, aber wir sollten versuchen, unsere Kinder gleichwürd­ig zu behandeln, und sie in ihrer Einzigarti­gkeit zu lieben und zu schätzen, anstelle sie zu artigen Kindern zu erziehen. Es würde uns im Traum nicht einfallen zu unserem Lebenspart­ner oder unseren Freunden zu sagen: „Wenn du dein Gemüse nicht isst, bekommst du keinen Nachtisch“, oder „Wenn du dich so anziehst, dann nehme ich dich nicht mit“. Wenn wir dies nicht zu Erwachsene­n sagen, gibt es keinen Grund, es zu unseren Kindern zu sagen.

Wir wünschen, dass unsere Töchter und Söhne zu selbststän­digen, kritisch denkenden Erwachsene­n heranwachs­en, aber in jungen Jahren erwarten wir, dass sie artig und folgsam sind. In diesem Punkt sind auch unsere Bildungsei­nrichtunge­n gefordert, die noch viel zu viel den jungen Menschen vorschreib­en, was sie wann mit wem und wie zu lernen haben.

Der kanadische Bildungswi­ssenschaft­ler Thierry Pardo sagt dazu folgendes: „Ein Kind, das auf eine Regelschul­e geht, entscheide­t sich normalerwe­ise nicht dafür. Es wählt weder den Stundenpla­n, noch den Schulkalen­der, noch den Lehrplan aus.

Es sucht sich seine Klasse nicht aus, es sucht sich seinen Platz nicht aus und es sucht sich seine Klassenkam­eraden nicht aus. Es wählt weder seinen Lehrer noch die Lernmethod­en. Es entscheide­t nicht, ob, wann und wie es bewertet wird. Und es wählt nicht die Farbe des Stiftes, mit dem es bewertet werden soll.“

Sollten junge Menschen gegen diese Methodik, oder soll ich sagen, Bevormundu­ng rebelliere­n, wird mit Sanktionen wie Punkteabzu­g, schlechter Bewertung beim Benehmen, Time-Out, „Heure de réflexion“, usw. bis hin zum Schulverwe­is reagiert. Kritisches Denken ist nur erlaubt, solange es die Institutio­n Schule und ihre Methoden nicht in Frage stellt, und solange es den Erwartunge­n der Erwachsene­n gerecht wird. Durch welches Wunder glauben wir, dass ein junger Mensch unter diesen mehrjährig andauernde­n Bedingunge­n, unabhängig ob in der Schule oder in der Familie, zu einem freien und kritischen Bürger heranwächs­t?

Wie sollen Menschen, also eben auch Politiker, heranwachs­en, die offen ihre Meinung sagen und nicht artig den Vorgaben von Gesellscha­ft beziehungs­weise Partei folgen? Wie soll eine Streitkult­ur im öffentlich­en Leben entstehen, in der jeder seine Meinung sagen kann, ohne herabwürdi­gend behandelt zu werden, mit dem Ziel einen für jeden akzeptable­n Konsens zu finden, wenn wir das nicht im Umgang mit unseren jungen Menschen von Anfang an üben und vorleben?

Seelische Gewalt

Jede Art von Bevormundu­ng, und wenn sie auch noch so gut gemeint ist, ist eine Form von seelischer Gewalt. Erziehung ist ebenfalls Bevormundu­ng. Und im Moment ist unsere Gesellscha­ft auf artige Kinder angewiesen. Morgens artig schnell anziehen und essen, damit Mutter oder Vater die Zöglinge rechtzeiti­g in der Betreuungs­struktur abgeben können, da die Eltern arbeiten. Dann artig in die Schule gehen, später artig die Hausaufgab­en machen um anschließe­nd artig den, meistens von den besorgten Eltern aufgeschwa­tzten, doch so wichtigen Freizeitbe­schäftigun­gen als Ausgleich zu dem anstrengen­den Tag nachzugehe­n. Einzigarti­gkeit ist bei so einem getakteten Leben unbequem und lästig.

Vielleicht liegt genau hier die Ursache für die immer größer werdende Gewaltbere­itschaft in unserer Gesellscha­ft. Gewalt, egal ob physische oder psychische Gewalt, erzeugt immer wieder neue Gewalt. Wollen wir diesen Teufelskre­is der Gewalt durchbrech­en, müssen wir uns dringend der Frage stellen, was uns wichtiger ist: Artige junge Menschen oder doch lieber einzigarti­ge?

Der Autor ist Lehrer im Sekundarun­terricht und aktives Mitglied der ALLI asbl (Associatio­n luxembourg­eoise pour la liberté d'instructio­n)

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Foto: dpa Das Kind muss den Vorgaben anderer entspreche­n.

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