Mit einem Schuss Anarchie
Vor 25 Jahren endeten die Comic-Strips um Calvin und Hobbes
Bonn. Charles M. Schulz (19222000) hat mit seinen „Peanuts“die Standards gesetzt. Eine Truppe junger US-Vorstadtkinder und -tiere, die mit ihren Alltagserlebnissen auf so leichtfüßige wie melancholische Art die Untiefen des Lebens philosophisch ausleuchten – und das über viele Jahrzehnte und in Geschichten von nur drei bis vier Bildern.
Nachahmer fand die Machart viele, von verschiedenem Tiefgang und unterschiedlichster Stoßrichtung. Andre Franquins „Gaston Lagaffe“, Jim Davis' „Garfield“, Dik Brownes „Hägar der Schreckliche“oder Rick Kirkmans und Jerry Scotts „Baby Blues – Nächte des Grauens“gehören zu den besten. Womöglich niemand aber traf den Geist der „Peanuts“und modernisierte ihn besser als Bill Watterson. Seine Helden, der kleine Junge Calvin und dessen Stofftiger Hobbes, verabschiedeten sich am 31. Dezember 1995, vor 25 Jahren, von einem weltweiten Publikum.
Calvins Kosmos kennt weniger Personen als die Peanuts. Er reibt sich vor allem an seinen Eltern, an seiner Lehrerin Miss Wormwood und an deren vergeblichen Erziehungsversuchen. Calvin bleibt renitent gegen Unterricht, die Badewanne und jedes erwartungsgemäße Verhalten. Sein Freund und Alter Ego ist der vergleichsweise vernünftige Stofftiger Hobbes, der in Calvins Welt – aber nur dort – lebendig ist und mit ihm allerlei Stunts vollführt und philosophische Gespräche führt. Für alle anderen ist Hobbes bloß ein stummes, stark abgewetztes Stofftier.
Intellektuell begegnet Calvin seinen Eltern vermeintlich auf Augenhöhe. Futter und Argumente für ihre ständigen Auseinandersetzungen bezieht er regelmäßig aus seiner Affinität zu Massenmedien. Und wo der Gegner oder die Langeweile übermächtig sind – vor allem in Schule und Badezimmer – flüchtet sich Calvin in Tagträume, in denen er als heldenhafter „Spaceman Spiff“mit seinem Raumschiff grässliche Monster bekämpft, die sich am Ende leider meist als Miss Wormwood entpuppen.
Überhaupt: Die Auseinandersetzung mit dem anderen Geschlecht sucht Calvin nicht. Lieber gründet er einen Mädchenhasser-Verein, zu dessen Versammlungen im Baumhaus nur er und Tiger Hobbes zugelassen sind.
Prädestination
Die Namen seiner Helden wählte Zeichner Bill Watterson in Rückgriff auf die geistigen Auseinandersetzungen der Frühen Neuzeit. Der Genfer Reformator Johannes Calvin (1509-1564) stand für ihn für den Glauben an die Vorherbestimmung (Prädestination) des Menschen durch Gott und der britische Sozialphilosoph Thomas Hobbes (1588-1679) für ein nur wenig erbauliches Bild der menschlichen Natur.
Watterson wurde am 5. Juli 1958 in Washington geboren, wo sein
Versammlung im Baumhaus eines Mädchenhasser-Vereins.
Vater als Patentanwalt arbeitete – übrigens wie Calvins Vater. Er wuchs in Ohio auf und zeichnete schon bald leidenschaftlich. In der 4. Klasse antwortete ihm sein Idol Charles M. Schulz auf seine Fanpost; und in der 10. Klasse malte er Michelangelos „Erschaffung des Adam“an die Decke seines Kinderzimmers.
Mit den „Calvin und Hobbes“Abenteuern – die regelmäßig im „Luxemburger Wort“veröffentlicht wurden – gelang Bill Watterson ein großer Wurf. Zwischen 1985 und Ende 1995 erschienen die Geschichten in rund 2 300 Zeitungen weltweit; mehr als 20 Millionen Bücher gingen über den Ladentisch. Aber bei alledem behielt Watterson immer seinen sehr eigenen Willen. Mit Händen und Füßen wehrte er sich gegen die Vermarktung seiner Charaktere auf Handtüchern, Tassen und Bettwäsche; Merchandising war ihm ein Gräuel. Auch eine Zeichentrickserie verhinderte er. Zudem behagte dem Zeichner der Gedanke an künstlerische Erstarrung und Wiederholung nicht; sein Calvin lebte von der Unordnung.
Der letzte Comic-Strip erschien also am 31. Dezember 1995, vor 25 Jahren. In seinem Abschiedsbrief schrieb Watterson, die Entscheidung zum Aufhören sei ihm nicht leicht gefallen. Doch er habe begonnen, sich „mehr und mehr für andere Dinge zu interessieren“; er wolle „mehr Zeit für mich haben und weniger künstlerische Kompromisse eingehen müssen“. Seither lebt er mit Ehefrau und Tochter zurückgezogen in Cleveland Heights, Ohio. Ob dort von Zeit zu Zeit ein kleiner Junge mit einem Tiger und einem Bettlaken vom Dach der Veranda springt und „Geronimo!!“schreit, ist nicht bekannt. KNA