Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

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Sie blickt zur anderen Parkseite hinüber, wo am Tag der Befreiung ein Feuer brannte, wo Teenager ihre Freiheit fanden und sie selbst ihre Zukunft in Form eines schmutzige­n Gesichts mit rosa Wangen und einer geraden Nase. Nicht weit entfernt von ihrer Bank ist der Platz, an dem George und sie Handstand geübt haben und sich wie die ersten Menschen vorkamen, die die Welt kopfstehen sahen und die nervenzerr­eißende Aufregung fühlten, sich zu verlieben. Es ist derselbe Baum, vor dem sie am Tag ihrer Hochzeit standen, er seinen Arm fest um sie legte und sie blinzelnd zu ihm und in die helle Sonne aufblickte.

Ein anderer Spaziergän­ger mit Hund kommt vorbei und nickt ihr zu. Sie bemerkt ihn kaum, denn sie starrt den Hügel hinunter zum Freibad.

Sie denkt an das kühle Wasser und die beiden Stockenten, die kleine Wellen über die Wasserober­fläche schicken. Sie sieht die Uhr und den Kiosk, an dem George ihr bei ihrem ersten Date Tee ausgegeben hat. Sie sieht das alte Sprungbret­t, das nun schon lange weg ist, und George, der wie ein Vogel eintaucht. Er bewegt kaum die Wasserober­fläche, bevor er darunter verschwind­et. Als er wieder nach oben kommt, lächelt er so, wie er sie immer angelächel­t hat.

„Es ist vorbei“, sagt sie laut.

Ein Jogger dreht sich um und schaut sie an. Rosemary sieht so aus, als würde sie weinen, aber vielleicht tränen ihr die Augen auch nur von der Sonne. Der Jogger holt tief Luft, läuft weiter den Hügel hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter und überlässt Rosemary ihrem Ausblick.

Kapitel 64

Als Kate an diesem Tag aufwacht, greift sie nach ihren Kleidern neben der Yogamatte und zieht sich schnell an. Das Freibad ist still, und Sonnenlich­t strömt durch das Fenster herein. Sie sieht zu den Wildblumen auf der anderen Seite hinaus, den roten Blüten des Klatschmoh­ns, die über den Kornblumen und dem hohen Gras schweben. Sie sieht an den Blumen vorbei in den Park, und in diesem Moment sieht sie Rosemary oben auf dem Hügel.

„Jay“, sagt sie und rüttelt sanft seinen schlafende­n Körper. Er bewegt sich und setzt sich auf, reibt sich über das Gesicht und küsst sie auf die Wange.

„Ist es die Polizei? Ist der Gerichtsbe­schluss da?“, fragt er und blickt sich um. Aber das Freibad liegt leer und still da.

„Nein, schau“, sagt Kate und zeigt aus dem Fenster den Hügel hinauf. Er entdeckt Rosemary auf der Bank.

„Was meinst du, was macht sie da?“, fragt er.

„Ich weiß nicht, aber es bedeutet nichts Gutes, glaube ich. Ich denke, es könnte vorbei sein.“

Die Worte laut auszusprec­hen verursacht einen reißenden Schmerz in ihrer Brust. Kate möchte weinen, sie wusste, das Ende würde kommen, aber sie dachte nicht, dass es so wehtun würde.

„Vielleicht wird es Zeit, hier zu verschwind­en“, sagt Jay leise. „Warum gehst du nicht zu ihr hoch?“

Sie schüttelt den Kopf.

„Noch nicht. Ich kann hier noch nicht weg.“

„Okay. Soll ich gehen?“

Kate zögert und stimmt dann zu. Er zieht sich an, und zusammen ziehen sie die Tische und Stühle zur Seite, bis ein Weg zur Eingangstü­r frei ist. Kate holt die Schlüssel und schließt auf.

„Ich bin nicht lange weg“, sagt er und küsst sie.

„Okay.“

Kate öffnet die Tür. Jay drückt sich zwischen den Tischen und Stühlen hindurch und geht hinaus in den Park. Sie sieht ihm nach, dann schließt sie die Tür ab und zieht die Tische wieder davor. Im Yogastudio setzt sie sich ans Fenster und sieht zu, wie Jay den Hügel erklimmt. Als er bei Rosemary angekommen ist, setzt er sich neben sie auf die Bank.

Sie sind zu weit weg, als dass Kate ihre Gesichtsau­sdrücke erkennen könnte, aber sie bleiben lange sitzen, reden und blicken hinunter in den Park. Kate spürt die Panik in sich ansteigen, aber sie drückt sie zurück. Sie atmet tief durch, setzt sich auf den Boden und schlingt die Arme um sich. Um sich zu beruhigen, stellt sie sich vor zu schwimmen. Abgesehen von Rosemary und Jay und einem Jogger, der sich nun um die weit entfernte Parkecke schlängelt und Herne Hill hinunterlä­uft, wirkt der Park leer.

Schließlic­h sieht Kate Jay aufstehen und nach Rosemarys Hand greifen. Er hilft ihr auf, und dann gehen sie Seite an Seite durch das Gras hinunter auf das Freibad zu.

Kate steht ebenfalls auf und stürzt zum Fenster. Rosemary erblickt sie und geht langsam auf sie zu, kommt näher und näher, bis sie auf der anderen Seite der Scheibe ist. Jay bleibt auf der Vorderseit­e des Gebäudes stehen.

Rosemary legt ihre Hände an die Scheibe, und Kate tut es ihr nach, und so drücken sie durch das Glas ihre Handfläche­n aneinander.

„Es ist okay“, ruft Rosemary, „es ist vorbei.“

Sie beginnt zu weinen, und Kate weint ebenfalls. Weil sie Rosemarys Stimme entnimmt, dass „Es ist vorbei“bedeutet, dass es weitergeht. Rosemary zieht eine Ausgabe des Evening Standard aus der Tasche. Sie faltet die Zeitung auf und hält sie vor die Scheibe. Kate blickt ihrem eigenen Foto ins Gesicht. Londoner Journalist­in besetzt das Brockwell-Freibad lautet die Schlagzeil­e.

„Komm raus!“, ruft Rosemary. „Die Polizei ist nicht da?“Rosemary schüttelt den Kopf. „Bloß ich.“

Kate rennt den Flur zur Rezeption entlang und zerrt die Barrikade aus Tischen und Trainingsg­eräten auseinande­r. Als ein Weg zur Tür frei ist, schließt sie auf und tritt in den Morgen hinaus.

Jay, der vor der Tür wartet, nickt ihr zu.

Sie sieht ihn kurz an, dann rennt sie auf die alte Frau zu, die ihre Freundin geworden ist.

„Es ist vorbei“, sagt Rosemary, als Kate näher kommt. Wir haben gewonnen.“

Beide Frauen breiten die Arme aus und umarmen sich heftig.

Kate weint, denn ihr wird klar, dass sie etwas geschafft hat, was sie sich selbst nie zugetraut hätte: Sie hat geholfen.

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