Verloren im bosnischen Morast
Nach der Zerstörung des Migrantenlagers Lipa kämpfen Hunderte Schutzsuchende ums Überleben
Das Migrantenlager Lipa in Nordbosnien brannte am Tag vor Heiligabend nieder. Rund 900 Geflüchtete warten seitdem bei Kälte und Nässe unter freiem Himmel auf Obdach. Hunderte irren durch die Wälder. Eine Gruppe Helfer aus Bosnien und Deutschland versuchen, sie vor dem Erfrierungstod zu retten.
in Schlappen durch den Matsch. Wenige Feuer brannten in Mülltonnen, um die sich die Geflüchteten scharten. Wer in der ersten Reihe steht, strecke seine Hände in Richtung der Flammen.
Hoffen auf das „Game“
Eren und seine Helfer machen sich auf in die Wälder zwischen Camp Lipa und der kroatischen Grenze. Er schätzt, dass Hunderte Migranten nach dem Brand aufgebrochen sind, um das „Game“zu versuchen. „Game“umschreibt im Jargon der in Bosnien gestrandeten Migranten die immer zweckloseren Versuche, die Grenze zwischen Bosnien und dem EU-Land Kroatien auf Schleichwegen durch die seit den Balkankriegen in den 90er-Jahren minenverseuchten Wälder zu überqueren.
Medien und humanitäre Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen oder Amnesty International berichten immer wieder von illegalen Zurückweisungen von Geflüchteten. Entgegen der völkerrechtlichen Konvention würden Flüchtlinge dabei abgeschoben, ohne die Chance, einen Asylantrag zu stellen. Bei den sogenannten „Pushbacks“würde auch Gewalt eingesetzt, heißt es immer wieder. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR geißelte im vergangenen Jahr das Vorgehen der kroatischen Grenzschützer gegen Geflüchtete als brutal. Der kroatische Innenminister Davor Božinovic reagierte im November 2020 mit einer Pressekonferenz auf einen im deutschen Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“veröffentlichten Bericht über Übergriffe gegen Migranten. Er sprach von „haltlosen Behauptungen“.
Eren berichtet, dass er einen Migranten in kurzer Hose angetroffen habe. Er sei so von der kroatischen Grenze zurückgekehrt und habe erzählt, die Grenzer hätten ihn vor der Abschiebung ausgezogen.
Während Eren, Riemann und die anderen bosnischen und deutschen Helfer in einem Wettlauf gegen Kälte und Zeit die mit Stelp eingekauften Winteranoraks, Schuhe sowie Essen und Getränke im Camp Lipa und den angrenzenden Wäldern verteilen, eilt IOM-Chef Peter Van der Auerwaert in Sarajevo von einem Krisengespräch zum nächsten. Er macht sich besondere Sorgen um 500 Migranten, die sich aus dem abgebrannten Lager in die Wälder abgesetzt haben. Verlassene Scheunen oder Kriegsruinen böten keinen Schutz gegen die Witterung, meint er. Für die 900 Geflüchteten im Camp baue die bosnische Armee immerhin neue Zelte. Aus humanitärer Sicht sei das die Rückkehr zu den Verhältnissen vor dem Brand. Im Moment seien die Zelte aber besser als nichts, fügt Van der Auerwaert hinzu.
Das Bemühen, Hunderte von Migranten vor dem Erfrierungstod in den Wäldern Bosniens zu retten, gleicht einer schier unlösbaren Aufgabe. Bosnien ist seit dem Friedensabkommen von Dayton im Jahr 1995 in zahlreiche Gebietseinheiten gespalten. Da ist die serbische Republika Srpska, die ein geeintes Bosnien ablehnt. Die bosnisch-kroatische Föderation bildet die zwischen Katholiken und Muslimen
Die Menschen sind komplett durchnässt. Viele laufen ohne Socken in Schlappen durch den Matsch.
gespaltene zweite Einheit des Landes. Van der Auerwaert hofft auf politischen Druck aus Brüssel auf das fragile Gebilde Bosnien. Die EU hat 3,5 Millionen Euro an Nothilfe zur Linderung der humanitären Krise um das abgebrannte Camp bereitgestellt. Doch wichtiger sei es, die zerstrittenen Hauptstadtpolitiker aus Sarajevo und die feindseligen Lokalfürsten aus allen bosnischen Ethnien an einen Tisch zu bringen, meint Van der Auerwaert.
Wälder als verschwiegene Gräber Zlatan Kovacevic verlor während des Bosnienkriegs ein Bein in der damals umkämpften Enklave Bihac. Er leitet SOS Bihac, die bosnische Partnerorganisation von Stelp und verteilt Hilfsgüter im Camp Lipa. Er beobachtete in den vergangenen Jahren, wie sich die Stimmung in der kriegsverwundeten Stadt von anfänglicher Sympathie für Menschen mit einem ähnlichen Schicksal in Feindseligkeit verwandelte.
„Wir erleben, dass die EU die Flüchtlinge direkt vor ihrer Haustür konzentrieren will und das bei uns“, sagt der Helfer. In einem Land, in dem der Boden noch mit Minen aus dem Krieg gesättigt ist und die Seelen mit den begangenen Gräueltaten, eignen sich die Wälder wohl noch immer als verschwiegene Gräber.