Die Reportage
Ein Mann hat eine Decke über seine Schultern gelegt. Der untere Teil des hellblauen Stoffs ist mit Matsch getränkt. Ein Paar dunkler Augen sitzt über hohlen Wangen. Die Augen fixieren die Kamera auf der anderen Seite eines Gitterzauns. Es ist der Blick eines Mannes, der zu viel gesehen hat in den vergangenen Tagen und nichts anderes mehr vermag, als zu schweigen. Auf der anderen Seite des Gitters steht die deutsche Schauspielerin Katja Riemann. Sie trägt einen Winteranorak mit Pelzkapuze über einer Wollmütze. Riemann stellt auf Englisch Fragen an einen Migranten, der neben dem in eine Decke gehüllten Mann steht.
Unwürdiges Kompetenzgerangel
Er nennt sich Yallah Sahin und sagt, er sei Afghane. Seit dem Brand vom 23. Dezember ist er einer von rund 900 Migranten ohne Obdach im Lager Lipa, etwa 25 Kilometer südöstlich der Stadt Bihac in Nordwestbosnien und unweit der kroatischen EU-Außengrenze. Die zum UN-System gehörende Internationale Organisation für Migration (IOM) beschloss am Tag vor Heiligabend, das Camp zu räumen. Ein Streit mit den bosnischen Behörden war der Entscheidung vorausgegangen.
Das Lager Lipa wurde im April 2020 als Provisorium in der Corona-Pandemie für 1 000 Migranten eröffnet. Das eigentliche Camp in der ehemaligen Kühlschrankfabrik Bira am Stadtrand von Bihac wurde im September geschlossen und die letzten Bewohner nach Lipa verlegt.
Die bosnischen Behörden wollten von einer Übergangslösung Ende vergangenen Jahres nichts mehr wissen. Sie verkündeten am 21. Dezember, dass das Zeltlager in Lipa von Frühjahr 2021 an das frühere Camp Bira in Bihac auf Dauer ersetzen soll. Die in Lipa lebenden Migranten sollten lediglich für die harten Wintermonate wieder hinter die Mauern der Fabrik in Bihac ziehen. Die Bosnier versprachen, Lipa während des Winters für eine dauerhafte Nutzung in Stand zu setzen. Die lokalen Behörden in Bihac machten der Regierung in Sarajevo aber umgehend einen Strich durch die Rechnung. Sie würden keinen einzigen Migranten innerhalb ihrer Stadtgrenzen dulden, erklärten sie.
Geflüchteten wie dem Afghanen Yallah Sahin blieb angesichts des Streits zwischen Bihac und Sarajevo bei eisigen Temperaturen kein anderes Obdach als die Zeltplane, unter denen er schon seit Wochen fror. Die IOM räumte am 23. Dezember das Camp aus Protest gegen das bosnische Kompetenzgerangel. Unter den auf sich alleine gestellten Migranten kam es zum Aufstand. Einige Bewohner zündeten Schlafzelte und Container an. Ihre Wut und Verzweiflung entluden sich in einer Rauchwolke, die pechschwarz über das Camp trieb.
Yallah Sahin berichtet Katja Riemann, dass sich die Obdachlosen nach dem Brand selbst versorgen müssten. Wer noch über Geld verfügte, musste sechs bis acht Stunden zu Fuß nach Bihac laufen, um etwas einzukaufen. Er zählt die Lager auf, die sonst noch in Bosnien im Ort Velika Kladuša direkt an der Grenze zu Kroatien sowie in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo existieren. Alle seien voll, meint er. „Wo ist Platz für uns? Wo finden wir ein Dach über dem Kopf? Was sollen wir machen“, fragt er die deutsche Schauspielerin.
Katja Riemann bezeichnet Lipa als das „trostloseste Camp“, das sie jemals gesehen habe. Sie traf im vergangenen Sommer den Helfer Serkan Eren aus Stuttgart auf der griechischen Insel Lesbos. Damals gab es dort noch das im September abgebrannte Migrantenlager Moria. „Für die Recherche zu meinem nächsten Buch habe ich ihn gefragt, ob er nach Bosnien fahren würde, da ich von seinem Projekt vor Ort wusste“, erzählt Riemann. Eren hatte zu diesem Zeitpunkt seinen Weihnachtsurlaub bereits abgeschrieben. Die Stuttgarter Hilfsorganisation Stelp arbeitet in Nordbosnien mit der Organisation SOS Bihac zusammen. Sie waren neben dem Bosnischen Roten Kreuz die einzigen Helfer in Lipa und hatten schon bald nichts mehr
Zlatan Kovacevic, der während des Bosnienkriegs ein Bein verlor, leitet die Hilfsorganisation SOS Bihac.
zu verteilen. Eren traf an den Feiertagen Vorbereitungen, um gemeinsam mit Katja Riemann, dem Stuttgarter Notfallmediziner Martin Breitkopf und zwei weiteren Mitarbeitern von Stelp nach Bosnien zu fahren. Die Helfer betraten am Morgen des 2. Januar zum ersten Mal das ausgebrannte Camp.
„Kälte“und „Nässe“sind die Worte, die Eren immer wieder verwendet, um seine Eindrücke zu schildern. Er habe noch nie Menschen erlebt, die pausenlos zitterten. Die Menschen seien komplett durchnässt. Viele liefen ohne Socken