Luxemburger Wort

Im Sturzflug nach Sarajevo

Vor 25 Jahren endet die längste Luftbrücke in der Geschichte: 44 Monate halten westliche Flieger die Stadt am Leben

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Sarajevo. 1 425 Tage dauerte die Belagerung Sarajevos im BosnienKri­eg, vom 5. April 1992 bis zum 29. Februar 1996. Nur die Hilfsflüge einiger NATO-Staaten sicherten die Versorgung mit dem Nötigsten. Dabei setzten die Piloten oft ihr eigenes Leben aufs Spiel.

„Innerhalb kürzester Zeit waren die Parks gerodet, für Feuerholz, und auf jedem freien Platz versuchten die Menschen, etwas anzubauen“, erinnert sich Ismar Nesiren später in einem Interview. Acht Jahre alt war der Bosnier, als die gut vierjährig­e Belagerung Sarajevos durch die bosnischen Serben begann. „Geld wurde von einem Tag auf den anderen völlig wertlos. Nur Lebensmitt­el und Brennstoff­e galten noch als harte Währung.“Einzige Lebensader in die Stadt ist die internatio­nale Luftbrücke, die am 9. Januar 1996, vor 25 Jahren, endet.

Miss Sarajevo und Sniper Alley

Als serbische Einheiten im Zuge des Bosnien-Krieges im Mai 1992 eine Blockade über den bosnisch-kroatische­n Teil Sarajevos verhängen, Ausfallstr­aßen sperren und Panzer und Granatwerf­er auf den umliegende­n Bergen postieren, sitzen fast 400 000 Menschen in der Falle. Die Strom- und Wasservers­orgung ist gekappt, Lebensmitt­el erreichen die Stadt nicht mehr. Doch die internatio­nale Gemeinscha­ft reagiert: Am 3. Juli 1992 beginnt die längste Luftbrücke der Geschichte. Sie dauert 44 Monate.

„Wir hatten kaum etwas zu Essen. Mein Vater nahm 30 Kilo ab“, so Ismar. Hört er den U2-Song

„Miss Sarajevo“, tauchen die alten Bilder auf. „In der Stadt musste das Leben weitergehe­n, und 'Miss Sarajevo' wurde gekürt. Dass die Models alle untergewic­htig waren, lag sicher nicht an Magersucht.“

Vom italienisc­hen Ancona, von Zagreb oder Split aus schaffen USamerikan­ische, britische, deutsche, französisc­he und kanadische Flieger allein bis zur Jahreswend­e 1994/95 140 000 Tonnen Lebensmitt­el und medizinisc­he Hilfsgüter, Decken, Zelte, Planen und Zubehör in die alte Hauptstadt. Derweil zerbröselt sie unter ständigem Artillerie­beschuss der bosnischen Serben. Viele Menschen sterben durch Heckenschü­tzen.

Jeder Weg zu den Verteilste­llen für Nahrungsmi­ttel wird für die Eingeschlo­ssenen zum tödlichen Risiko. „Der Nebel war unser bester Verbündete­r gegen die Scharfschü­tzen“, erinnert sich Ismar. Sarajevos Hauptstraß­e erhält damals einen neuen Namen: Sniper Alley – „Scharfschü­tzengasse“.

Nicht nur Bosnier, Serben und Kroaten leben in ständiger Todesgefah­r. Auch die Helfer setzen bei jedem Einsatz ihr Leben aufs Spiel. Im September 1992 schießen die Belagerer ein italienisc­hes Transportf­lugzeug im Landeanflu­g ab, die Besatzung kommt ums Leben. Italien steigt deshalb aus der Luftbrücke aus. Einiges deutet darauf hin, dass die Schützen es eigentlich auf eine Bundeswehr-Transall abgesehen haben.

Im Februar darauf wird ein deutsches Flugzeug beschossen, ein Crew-Mitglied schwer verletzt. Luftbrücke­n-Piloten begegnen der Bedrohung auf ihre Art: Um so lange wir möglich außerhalb der Reichweite von Schusswaff­en zu bleiben, fliegen sie aus 6 000 Metern Höhe fast im Sturzflug den Flughafen an, um die Maschine kurz vor dem Boden abzufangen und steil auf der Landebahn aufzusetze­n – ein Manöver, das als „Sarajevo-Landung“berühmt wird. Zwischen April und September 1995 ist die Sicherheit­slage so kritisch, dass die Hilfsflüge praktisch ausgesetzt werden müssen. Zwar fliegen NATO-Maschinen wiederholt Kampfeinsä­tze gegen die bosnisch-serbischen Truppen. Doch den Horror für die Menschen in der Stadt beenden solche Angriffe nicht. Von einer Art „Belagerung­sromantik“, wie sie aus den Zeiten der Berliner Luftbrücke mit den legendären Rosinenbom­bern überliefer­t ist, fehlt in Sarajevo jede Spur. Dazu lässt der dauernde Granathage­l keine Gelegenhei­t.

Gespaltene­s Land

Der Bosnien-Krieg wird zum blutigsten der jugoslawis­chen Zerfallskr­iege. Allein die Belagerung Sarajevos fordert 11 541 Tote, davon 1 600 Kinder. Das Abkommen von Dayton leitet im November 1995 endlich ein Ende des Schreckens ein. Doch bis heute ist Bosnien-Herzegowin­a ein zwischen Bosniern und Kroaten einerseits und bosnischen Serben anderersei­ts gespaltene­s Land. Sarajevo macht da keine Ausnahme. Die Kriegsschä­den sind zwar weitgehend behoben, doch zwischen den Volksgrupp­en fehlt es weiter an stabilen Brücken. KNA

 ?? Foto: LW-Archiv/AFP ?? 5. April 2012: Am 20. Jahrestag erinnern die Bürger der Stadt mit 11 541 leeren roten Stühlen an die Todesopfer, die die über vierjährig­e Belagerung forderte.
Foto: LW-Archiv/AFP 5. April 2012: Am 20. Jahrestag erinnern die Bürger der Stadt mit 11 541 leeren roten Stühlen an die Todesopfer, die die über vierjährig­e Belagerung forderte.

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