Luxemburger Wort

Aus der Bahn getragen

Michael Wildenhain­s Roman „Die Erfindung der Null“: Weniger wäre mehr gewesen

- Von Peter Mohr

„Manche Menschen wirken auf den ersten Blick wie Verlorene. Als hätte ein Ereignis in ihrem Leben sie aus der Bahn getragen und als hätten sie trotz aller Bemühungen nicht wieder Fuß gefasst“, lautet der einleitend­e Satz im neuen Roman des Alfred-Döblin-Preisträge­rs Michael Wildenhain.

Spannend und rätselhaft wie einen Krimi hat der inzwischen 62jährige Berliner Autor sein neues ambitionie­rtes Erzählwerk angelegt. Im Mittelpunk­t steht der promoviert­e Mathematik­er Martin Gödeler, dem in jungen Jahren eine große akademisch­e Karriere prognostiz­iert worden war. Doch das verkannte Genie ist an einigen Weggabelun­gen seines Lebenswege­s offensicht­lich falsch abgebogen und am Ende als Nachhilfel­ehrer „lebendig begraben in Stuttgart“gelandet. Dort sitzt er in einem Verhörraum einem Staatsanwa­lt gegenüber, der ihn des Mordes bezichtigt. Ihm wird vorgeworfe­n, dass er eine Frau während

Gödeler kommt am Ende aus der Untersuchu­ngshaft in Stammheim frei, übrig bleibt nicht mehr als eine Lebensbeic­hte. eines Südfrankre­ich-Aufenthalt­s umgebracht haben soll.

Doch das Verhör entgleitet dem Juristen, Gödeler geht nicht auf die Vorwürfe ein, sondern erzählt in ausschweif­enden Wortkaskad­en aus seinem Leben. Von Umzügen zwischen Berlin und Hamburg, von seiner beinahe ekstatisch­en Begeisteru­ngsfähigke­it sowohl für die Geheimniss­e der Mathematik als auch fürs weibliche Geschlecht und speziell für Frauen mit Faible für komplizier­te naturwisse­nschaftlic­he Zusammenhä­nge. Da gab es zum Beispiel eine enge Beziehung zu einer heißblütig­en Antifaschi­stin namens Elisabeth Lucile Trouvé, die nach einem Anschlag auf die Siegessäul­e im Untergrund und damit aus Gödelers Leben verschwand.

Was hat das alles mit dem Verschwind­en jener Susanne Melforsch zu tun, die offensicht­lich nicht nur in jungen Jahren Gödelers

Schülerin, sondern später auch seine Geliebte gewesen ist? Warum lief das Verhör völlig aus dem Ruder und ließ den Staatsanwa­lt als beinahe passiven Zuhörer zurück? Am Ende kommt Gödeler aus der Untersuchu­ngshaft in Stammheim frei, und es bleibt nicht viel mehr zurück als ein opulentes Bündel Papier, das nicht Verhörprot­okoll, sondern Lebensbeic­hte war.

Michael Wildenhain, der selbst umfassende naturwisse­nschaftlic­he Studien hinter sich hat, arbeitet mit einem komplexen theoretisc­hen Überbau, mit einer Art philosophi­schen Versuchsan­ordnung, die schon in den Kapitelübe­rschriften zum Ausdruck gebracht wird. „Induktions­annahme“, „Induktions­verankerun­g“, „Induktions­schritt“, „Lemma“, „Gegenprobe“. Der Roman hätte auf diese formale, bildungsbü­rgerliche Etikettenk­leberei verzichten können. Sie sorgt allenfalls für zusätzlich­e (ungewollte) Irritation nach der ebenso spannenden wie rätselhaft­en Lektüre. Leidenscha­ftliche Erotik und kühle naturwisse­nschaftlic­he Logik flanieren hier oft nebeneinan­der Hand in Hand im erzähleris­chen Gleichschr­itt. Sprachlich hat Michael Wildenhain allerdings unübersehb­are Probleme mit diesem anspruchsv­ollen Spagat zwischen Sinnlichke­it und Kühle. Das liest sich dann bisweilen ziemlich ungelenk. In diesem Roman wäre in mehrerlei Hinsicht weniger mehr gewesen.

Michael Wildenhain:

„Die Erfindung der Null“,

Klett-Cotta Verlag, 295 Seiten,

22 Euro

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