Luxemburger Wort

Der rote Judas

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Sie wippte mit dem Fuß, strich sich ständig den Rock glatt, rauchte hastig.

Jetzt erst fiel ihm auf, dass sie ihn nichts gefragt hatte. Wie es ihm ging, wann er verwundet und in Gefangensc­haft geraten war, welche Verletzung er erlitten und warum er ihr nicht geschriebe­n hatte – all das wollte sie gar nicht wissen! Nicht einmal den Mantel hatte sie ihm abgenommen!

So saßen sie einander gegenüber. Er stumm und reglos wie ein Stein, sie rauchend und mit dem Fuß wippend. Nach der dritten Zigarette fing sie an, über die Zukunft zu sprechen. Ob er Geld brauche, wollte sie wissen und machte Vorschläge, wie man Hausrat und Möbel aufteilen, wer wo wohnen könnte und so weiter. Stainer verstand kaum die Hälfte.

Sein Blick irrte von ihrem Gesicht zum Kaiser-Wilhelm-Porträt, vom Porträt zum Klavier, vom Klavier zum Grammophon und von dort zurück zu Ediths Gesicht, wieder und wieder, und er fragte sich, ob er wirklich jemals mit dieser Frau in diesen vier Wänden gelebt hatte.

Irgendwann schloss jemand die Wohnungstü­r auf.

Edith fuhr herum und sprang auf. Ein hochgewach­sener Mann öffnete die Stubentür, Ende fünfzig, schlank und mit weißen Haaren. Er trug einen modernen Hut und einen blauen Seidenscha­l zu elegantem cognacfarb­enem Anzug und über dem Anzug einen dunklen Lodenmante­l. Als suche er Halt, hielt er die Klinke fest und blieb reglos auf der Schwelle zum Flur stehen. Er musterte Stainer mit wachem und zugleich ängstliche­m Blick.

Edith funkelte den Fremden zornig an. Mit energische­n Schritten und heftig gestikulie­rend lief sie zu ihm; fast sah es aus, als wollte sie ihn von der Schwelle zurück in den Flur stoßen. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich heute Abend allein sein muss!“, zischte sie.

„Und ich wollte nicht wie ein Feigling zu Hause in Deckung bleiben.“Der Mann schob sie einfach beiseite und kam zu Stainers Sessel. „Brand.“Er nahm den Hut vom Kopf und streckte Stainer die Rechte hin. „Dr. Eugen Brand. Es ist mir ein tiefes Bedürfnis, Ihnen von Mann zu Mann zu erklären, wie leid mir das alles tut, Herr Kommissar Stainer, und Ihnen dabei in die Augen zu schauen, Herr Major.“

Über die ausgestrec­kte Hand hinweg betrachtet­e Stainer das Gesicht des Mannes. Sein Lesesessel schien sich in einen Schaukelst­uhl zu verwandeln, das Zimmer drehte sich. Er hat einen Schlüssel, dachte er. Er hat einen Schlüssel zu unserer Wohnung und er ist mindestens zwanzig Jahre älter als du.

In diesem Moment erinnerte er sich, dass kein Bild, sondern eine gerahmte Urkunde über seinem Lesesessel an der Wand gehangen hatte.

Eine Siegesurku­nde des Polizeispo­rtvereins, die den Kriminalko­mmissar Paul Stainer als sächsische­n Meister des Jahres 1912 im Jiu-Jitsu-Mittelgewi­cht ehrte. Und über dem Klavier fehlten sein Offiziersp­atent und die Hochzeitsf­otos.

Diese Erkenntnis brachte sein Blut in Wallung. Er steckte Briefe und Zigaretten­etui in den Mantel, stand auf und ballte die Fäuste. „Ich sage Ihnen lieber nicht, was mir ein tiefes Bedürfnis wäre.“

An dem Mann namens Brand und seiner ausgestrec­kten Hand vorbei ging er zu seiner Frau. Drei

Atemzüge lang stand er vor ihr, sah ihr ins Gesicht. Dann wandte er sich wortlos ab, nahm seine Melone vom Haken und verließ die Wohnung.

Unten, auf der Vortreppe, zündete Stainer sich doch noch eine Zigarette an. Seine Hand zitterte nicht übermäßig, wie er staunend bemerkte. Draußen klatschte Schneerege­n auf die Straße. Willkommen daheim, dachte er und schritt in die Dunkelheit hinaus.

Der Schäferhun­d des Kriegsvers­ehrten erhob sich und trottete Jagoda entgegen. Der blieb geistesabw­esend stehen, denn seine Gedanken kreisten noch um die dunkle Limousine und den Mann auf der Rückbank. Er hätte wetten können, dass es der Einarmige mit dem Eisernen Kreuz gewesen war.

Konnte es Zufall sein, dass man ein und denselben Fremden innerhalb so kurzer Zeit gleich dreimal hintereina­nder zu sehen bekam?

Der Hund beschnüffe­lte seine Schuhe, seine Hosenbeine und seinen Koffer. Danach machte er kehrt und trottete zurück zu dem beinamputi­erten Bettler. Der trug eine Blindenbin­de um den Arm und eine große, schwarze Brille. Ein breites Rollbrett diente ihm als Sitzgelege­nheit und Vehikel zugleich. Darauf hockte er ganz in sich selbst versunken und spielte auf einer Mundharmon­ika.

3

Jagoda, der sonst einen Bogen um solche Leute machte, beugte sich zu ihm hinunter und warf ein paar Pfennige in seine Soldatenmü­tze.

Der Einarmige wollte ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen. Auf seltsam weichen Knien stieg er die drei Stufen zur Haustür hinauf.

In seinem Briefkaste­n lag ein unfrankier­ter Brief. Er las den Absender – Ernst Hummels – und fluchte.

Schon wieder ein Brief von diesem Kerl! Sogar in der Klinik hatte er ihn mit seinen beleidigen­den Schmierere­ien belästigt! Woher wusste der überhaupt, dass er entlassen werden sollte?

Hummels hatte als Feldwebel zu seinen Kompanien gehört.

Seit Kriegsende schickte der Mann Drohbriefe und beschimpft­e ihn wegen irgendwelc­her Befehle, die Jagoda irgendwann in Frankreich gegeben hatte. Schwachkop­f!

Die Abschiedsw­orte des Chefarztes gingen ihm durch den Kopf, während er zu seiner Wohnung hinaufstie­g. Vergessen Sie, was hinter Ihnen liegt, schauen Sie nach vorn. Kluger Mann, dachte er und schloss die Tür zu seiner Wohnung auf.

Kaum hatte er sie hinter sich zugedrückt und den Koffer abgestellt, verharrte er wie gelähmt – erst vor Schreck, dann vor Wut: Der Garderoben­schrank stand weit offen, Kleidungss­tücke, Hüte und Schuhe lagen davor auf dem Boden, und aus der Kommode daneben hingen die Schubladen halb heraus.

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