Auf Versöhnungskurs
Es waren bedrückende Fotos, die in den vergangenen Tagen aus Washington in die Welt gingen: Soldaten, die im Parlamentsgebäude schlafen, Sicherheitskräfte an allen Ecken und Enden – die Hauptstadt des „Land of the Free“glich vor der Amtseinführung Joe Bidens einer belagerten Festung. Doch das fast martialisch anmutende Aufgebot war angesichts des
Sturms auf das Kapitol Anfang Januar notwendig, denn es galt, eine Zeremonie zu schützen, die für viele Amerikaner heilig ist. Und so kam es, dass der Inauguration Day 2021 keine Bilder des Chaos und der Gewalt produzierte, sondern Momente der Identifikation, des Vertrauens in die Demokratie und der Hoffnung in ein Wiedererstarken der westlichen Werte schuf.
Wo sich Donald Trump als erster scheidender Präsident seit 1869 mit einer Gegenveranstaltung aus dem Staub machte, statt dem Stabwechsel an seinen Nachfolger beizuwohnen, wirkte Joe Biden versöhnend, indem er mit führenden Republikanern einen Gottesdienst feierte. Wo Trump sich bei einer Wahlkampfveranstaltung über einen Behinderten lustig gemacht hatte, wurde der Treueschwur bei Bidens Antritt von einer schwarzen Feuerwehrfrau in Gebärdensprache gesprochen. Wo
Trump sich kaum um die Corona-Toten scherte, trat sein Nachfolger das wichtigste Amt der freien Welt mit einer Gedenkminute an. Unzählige solcher kleinen oder großen Gesten waren es, die ein Millionenpublikum weltweit vernommen hat.
Hinzu kommen die Fakten, die Biden mit seinen ersten Amtshandlungen geschaffen hat: Gleich 17 Dekrete hat der Demokrat am ersten Tag im Amt auf den Weg gebracht.
Die wichtigste Priorität hat der Kampf gegen Corona, wie er mit der Einführung einer Maskenpflicht in Regierungsgebäuden, dem Tragen einer solchen im Oval Office und dem Wiedereintritt in die Weltgesundheitsorganisation WHO deutlich machte. Von großer Bedeutung ist auch die prompt erfolgte Rückkehr zum Pariser Klimaabkommen, aus dem Trump ausgetreten war. Dass die führende Weltmacht nun wieder mit an Bord ist, wird dem Kampf gegen den Klimawandel Auftrieb geben. Überhaupt kann die Weltgemeinschaft – und vor allem Europa – aufatmen, denn Amerika ist wieder ein verlässlicher Partner. Freilich wird auch Biden – wie übrigens nicht nur der polternde Trump, sondern schon der konziliante Obama – mehr transatlantisches Engagement der Europäer einfordern.
Man darf sich auch nicht der Illusion hingeben, dass Joe Biden die tiefen Wunden der Spaltung seiner Nation vollständig heilen kann. Die Radikalen unter den Millionen aufgepeitschten Trump-Anhängern bleiben eine tickende Zeitbombe. Doch als gemäßigter Demokrat und Kümmerer hat Biden das Zeug dazu, Gräben zu überwinden und Brücken zu jener Mehrheit an Andersdenkenden zu bauen, die noch nicht in einer postfaktischen Parallelwelt leben. Diese Menschen kann Biden gewinnen, wenn er sich an das Versprechen aus seiner Antrittsrede hält: „Ich werde genau so hart für diejenigen kämpfen, die mich nicht gewählt haben, wie ich für diejenigen kämpfen werde, die mich gewählt haben.“
Amerika ist wieder ein verlässlicher Partner für die Welt.
Kontakt: michael.merten@wort.lu