Fast ein Tag wie jeder andere
Heute ist der 22. Januar. Es ist Winter, die Sonne geht spät auf und eine unsichtbare Gefahr lauert auf uns, ein Virus, von dessen Existenz wir vor nicht allzu langer Zeit noch gar nichts wussten. An einem
22. Januar werden Millionen Menschen auf der Erde sterben, Millionen Kinder werden geboren und Millionen Jubilare feiern ihren Geburtstag. Seit Jahren trage ich dieses Datum mit mir herum. Ich brauche keinen Kalender und kein Smartphone, um an diesen Tag erinnert zu werden.
An einem 22. Januar wurde einer meiner besten Freunde geboren: Dieter, mit dem ich jahrelang die Schulbank drückte. Dieter war der Erste von uns, der sich ein „Micky Maus“-Heft leisten konnte. Und weil Dieter die Lektüre von „Micky Maus“über alles in der Welt liebte, nannten wir ihn von da an nur noch Micky. Micky war von kräftiger Statur, ein schlauer Bub, und wer ihn zum Freund hatte, durfte die Hausaufgaben von ihm abschreiben und sich in seine Obhut begeben, wenn einer der anderen
Jungs sich in böser Absicht näherte. Micky verblüffte uns mit seinem naturwissenschaftlichen Wissen. Zum Beispiel versuchte er an einem Nachmittag, mir Einsteins Relativitätstheorie zu erklären. Erst Jahrzehnte später sollte ich dem Physiker auf die Schliche kommen. Nach der Schulzeit absolvierte er eine Lehre als Elektromechaniker und machte in einem Weltunternehmen Karriere. Schon bald leitete er dessen Filiale in Moskau. Wir schrieben uns oft und manchmal kam er auch zu Besuch. Sein überraschender Tod hinterlässt bis heute viele offene Fragen.
Und noch ein guter Freund hat heute Geburtstag: Gerd, er wird 92 Jahre alt. Er lebt mit seiner
Frau Elisabeth in einem alten Fachwerkhaus, das früher die Gastwirtschaft „Zum Schwanen“beherbergte. Jeden Morgen schmökert er aufmerksam in der Tageszeitung, und wenn man ihm ein Buch schickt, hat er es im Nullkommanix gelesen. Über Jahrzehnte begleitete Gerd als „Schiffsarzt“unsere Reisen mit den Freunden im Kabinenboot. Meist gondelten wir über die französischen Flüsse und Kanäle.
Mich und meine Familie hat Gerd stets mit medizinischem Rat versorgt. Ein wahrer Freund: hilfsbereit, fürsorglich und ausgestattet mit jeder Menge Humor. Ich werde ihm jetzt gleich gratulieren.