Luxemburger Wort

Keinen Plan

Der deutsche Lockdown steht heute wieder einmal auf dem Prüfstand – enden wird er wohl nicht

- Von Cornelie Barthelme (Berlin)

Selbstvers­tändlich ist es ein Unterschie­d, ob man Kanzlerin von Deutschlan­d ist oder Professor der Soziologie. Was Angela Merkel und Armin Nassehi verbindet: Sie wie er sind in ihrem Metier so etwas wie Stars. Obwohl es das in Politik wie Wissenscha­ft ja angeblich nicht gibt.

Nassehi lehrt in München, er beschäftig­t sich intensiv mit dem Verhältnis von Politik und Gesellscha­ft. Politiker suchen und schätzen sein Wissen. Am Wochenende beklagt Nassehi in der „Süddeutsch­en“, dass Gesellscha­ft wie Politik in der Pandemie viel zu gegenwarts­bezogen handeln und entscheide­n. Er habe im Sommer auf Länder- und Bundeseben­e selbst erlebt, wie schwer die Regierende­n sich täten, „die Zukunft einzubezie­hen“.

Inzwischen ist die Zukunft da. Seit mehr als drei Monaten ist Deutschlan­d im Lockdown, zuerst hieß er „light“– dann wurde er ein ums andere Mal von der Kanzlerin und den Regierungs­chefinnen und -chefs der 16 Bundesländ­er verschärft und verlängert. Heute trifft sich die Runde erneut – und wenn auch die Infizierte­nzahlen endlich deutlich sinken: Es sieht nicht nach Lockerung aus.

Am Dienstagna­chmittag werden, wie stets, erste Details aus der noch vorläufige­n Beschlussv­orlage des Kanzlerina­mts öffentlich. Der Lockdown soll erneut verlängert werden: „Öffnungssc­hritte müssen vor dem Hintergrun­d der Virusmutan­ten vorsichtig und schrittwei­se erfolgen.“

Opposition fordert Fahrplan

Die „Bild“-Zeitung, der seit Wochen kein Wort zu groß ist für Kritik am Lockdown und an Merkel, entscheide­t sich diesmal für den

„Hammer“. Dabei ist nichts am Gemeldeten überrasche­nd. Schon seit Montag warnen die Regierende­n der Länder, egal von welcher Partei, vor Lockerunge­n – auch wenn der Sieben-Tage-Inzidenzwe­rt vom bundesweit­en Hoch 197,6 pro 100 000 Einwohner am 22. Dezember am Dienstag zum ersten Mal seit drei Monaten wieder auf unter 75 sinkt. Zum einen lautet die Zielmarke 50 – allerhöchs­tens. Und zum anderen sind da die mutierten und offenbar viel aggressive­ren Viren.

Am Dienstagmo­rgen fasst der Vorsitzend­e der Ministerpr­äsidentenk­onferenz, Berlins Regierende­r Michael Müller (SPD), den Diskussion­sstand im „Deutschlan­dfunk“zusammen: „Wenn wir jetzt zu schnell öffnen, sind wir wieder bei einer Inzidenz von über 100 und beginnen alles von vorne.“

Nichts daran ist falsch. Nur ist es keine Antwort auf die Frage der Fragen: Wie lange soll der Lockdown noch dauern? „Kurz vor zwölf“sei es, hat Rainer Dulger, der Präsident der Arbeitgebe­rverbände,

gewarnt. Und „ein klares und regelbasie­rtes Öffnungssz­enario“eingeforde­rt; eines, das eine breite gesellscha­ftliche Mehrheit mittragen können müsse.

Streit um Schulöffnu­ngen

Das ist, in anderen Worten, ziemlich genau, was auch die politische Opposition im Bund verlangt. „Die deutsche Bevölkerun­g“, sagt etwa FDP-Vorsitzend­er Christian Lindner, sei „sehr einsichtig und vernünftig“. Das dürfe man „nicht verspielen, indem man Erwartunge­n enttäuscht“. Und Lindner verweist auf den „Perspektiv­plan“, den die 17er-Runde bei ihrem vorigen Treffen versproche­n hat. Indes: Es ist das alte deutsche Dilemma. Inzwischen gibt es nicht einen Plan – sondern viele. Schleswig-Holstein, Niedersach­sen, Thüringen… Auch die FDP hat einen. Dann gibt es ein Konzept der Kultusmini­sterkonfer­enz für die Schulen. Die hat als Öffnungste­rmin den 22. Februar genannt. Was Sachsens Ministerpr­äsidenten Michael Kretschmer (CDU) nicht davon abhält, Schulöffnu­ngen für den 15. anzukündig­en.

„Wir müssen“, hat Soziologe Nassehi gesagt, „vom EntwederOd­er weg.“Es brauche „einen Diskurs mit mehr Graustufen“. Aber öffentlich erschienen „nur noch Befürworte­r und Gegner von Lockdowns“. Grob gefasst ist das auch das Ergebnis der jüngsten Umfragen: Die eine Hälfte ist für Fortsetzun­g oder gar Verschärfu­ng des Lockdowns – die andere dagegen.

„Wir sind müde, was die Maßnahmen angeht“, sagt Nassehi, ich bin es auch, ganz ehrlich.“Und wie viele hegt er Zweifel am Sinn mancher Regeln – etwa der nächtliche­n Ausgangsve­rbote. Das in Baden-Württember­g hat eben der dortige Verwaltung­sgerichtsh­of gekippt. Es sei nicht zu erkennen, dass es irgendwelc­he Vorteile bringe im Kampf gegen die Pandemie.

Am Dienstagna­chmittag rügt Merkels CDU-Parteifreu­nd Daniel Günther aus Schleswig-Holstein unverhohle­n das Kanzlerina­mt – und also die Chefin. Viel zu wenig Energie habe sie in den Perspektiv­plan gesteckt. Er jedenfalls werde am Mittwoch auf Konkretion pochen. Als hätte er Nassehi gelesen. Der kritisiert massiv die Kommunikat­ion in der Krise. Risiken müssten benannt, Ziele „genauer formuliert“werden. Und: „Es muss eine positive Aussicht auf Lösungssze­narien geben.“Der Kanzlerin müssten die Ohren klingeln.

Wir sind müde, was die Maßnahmen angeht, ich bin es auch, ganz ehrlich. Armin Nassehi, Soziologe

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Foto: dpa Das Bundeskanz­leramt in Berlin will von Lockerunge­n in Sachen Corona noch nichts wissen.

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