Keinen Plan
Der deutsche Lockdown steht heute wieder einmal auf dem Prüfstand – enden wird er wohl nicht
Selbstverständlich ist es ein Unterschied, ob man Kanzlerin von Deutschland ist oder Professor der Soziologie. Was Angela Merkel und Armin Nassehi verbindet: Sie wie er sind in ihrem Metier so etwas wie Stars. Obwohl es das in Politik wie Wissenschaft ja angeblich nicht gibt.
Nassehi lehrt in München, er beschäftigt sich intensiv mit dem Verhältnis von Politik und Gesellschaft. Politiker suchen und schätzen sein Wissen. Am Wochenende beklagt Nassehi in der „Süddeutschen“, dass Gesellschaft wie Politik in der Pandemie viel zu gegenwartsbezogen handeln und entscheiden. Er habe im Sommer auf Länder- und Bundesebene selbst erlebt, wie schwer die Regierenden sich täten, „die Zukunft einzubeziehen“.
Inzwischen ist die Zukunft da. Seit mehr als drei Monaten ist Deutschland im Lockdown, zuerst hieß er „light“– dann wurde er ein ums andere Mal von der Kanzlerin und den Regierungschefinnen und -chefs der 16 Bundesländer verschärft und verlängert. Heute trifft sich die Runde erneut – und wenn auch die Infiziertenzahlen endlich deutlich sinken: Es sieht nicht nach Lockerung aus.
Am Dienstagnachmittag werden, wie stets, erste Details aus der noch vorläufigen Beschlussvorlage des Kanzlerinamts öffentlich. Der Lockdown soll erneut verlängert werden: „Öffnungsschritte müssen vor dem Hintergrund der Virusmutanten vorsichtig und schrittweise erfolgen.“
Opposition fordert Fahrplan
Die „Bild“-Zeitung, der seit Wochen kein Wort zu groß ist für Kritik am Lockdown und an Merkel, entscheidet sich diesmal für den
„Hammer“. Dabei ist nichts am Gemeldeten überraschend. Schon seit Montag warnen die Regierenden der Länder, egal von welcher Partei, vor Lockerungen – auch wenn der Sieben-Tage-Inzidenzwert vom bundesweiten Hoch 197,6 pro 100 000 Einwohner am 22. Dezember am Dienstag zum ersten Mal seit drei Monaten wieder auf unter 75 sinkt. Zum einen lautet die Zielmarke 50 – allerhöchstens. Und zum anderen sind da die mutierten und offenbar viel aggressiveren Viren.
Am Dienstagmorgen fasst der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz, Berlins Regierender Michael Müller (SPD), den Diskussionsstand im „Deutschlandfunk“zusammen: „Wenn wir jetzt zu schnell öffnen, sind wir wieder bei einer Inzidenz von über 100 und beginnen alles von vorne.“
Nichts daran ist falsch. Nur ist es keine Antwort auf die Frage der Fragen: Wie lange soll der Lockdown noch dauern? „Kurz vor zwölf“sei es, hat Rainer Dulger, der Präsident der Arbeitgeberverbände,
gewarnt. Und „ein klares und regelbasiertes Öffnungsszenario“eingefordert; eines, das eine breite gesellschaftliche Mehrheit mittragen können müsse.
Streit um Schulöffnungen
Das ist, in anderen Worten, ziemlich genau, was auch die politische Opposition im Bund verlangt. „Die deutsche Bevölkerung“, sagt etwa FDP-Vorsitzender Christian Lindner, sei „sehr einsichtig und vernünftig“. Das dürfe man „nicht verspielen, indem man Erwartungen enttäuscht“. Und Lindner verweist auf den „Perspektivplan“, den die 17er-Runde bei ihrem vorigen Treffen versprochen hat. Indes: Es ist das alte deutsche Dilemma. Inzwischen gibt es nicht einen Plan – sondern viele. Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Thüringen… Auch die FDP hat einen. Dann gibt es ein Konzept der Kultusministerkonferenz für die Schulen. Die hat als Öffnungstermin den 22. Februar genannt. Was Sachsens Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) nicht davon abhält, Schulöffnungen für den 15. anzukündigen.
„Wir müssen“, hat Soziologe Nassehi gesagt, „vom EntwederOder weg.“Es brauche „einen Diskurs mit mehr Graustufen“. Aber öffentlich erschienen „nur noch Befürworter und Gegner von Lockdowns“. Grob gefasst ist das auch das Ergebnis der jüngsten Umfragen: Die eine Hälfte ist für Fortsetzung oder gar Verschärfung des Lockdowns – die andere dagegen.
„Wir sind müde, was die Maßnahmen angeht“, sagt Nassehi, ich bin es auch, ganz ehrlich.“Und wie viele hegt er Zweifel am Sinn mancher Regeln – etwa der nächtlichen Ausgangsverbote. Das in Baden-Württemberg hat eben der dortige Verwaltungsgerichtshof gekippt. Es sei nicht zu erkennen, dass es irgendwelche Vorteile bringe im Kampf gegen die Pandemie.
Am Dienstagnachmittag rügt Merkels CDU-Parteifreund Daniel Günther aus Schleswig-Holstein unverhohlen das Kanzlerinamt – und also die Chefin. Viel zu wenig Energie habe sie in den Perspektivplan gesteckt. Er jedenfalls werde am Mittwoch auf Konkretion pochen. Als hätte er Nassehi gelesen. Der kritisiert massiv die Kommunikation in der Krise. Risiken müssten benannt, Ziele „genauer formuliert“werden. Und: „Es muss eine positive Aussicht auf Lösungsszenarien geben.“Der Kanzlerin müssten die Ohren klingeln.
Wir sind müde, was die Maßnahmen angeht, ich bin es auch, ganz ehrlich. Armin Nassehi, Soziologe