Luxemburger Wort

Der rote Judas

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Mehr noch allerdings irritierte ihn die Stimme des Dicken – nicht weil sie so tief und rau war, sondern weil sie etwas in ihm aufwühlte, auf das er nicht gefasst war: Angst, Wut und das Bedürfnis wegzulaufe­n.

Wie konnte das sein? Er verstand sich selbst nicht.

„Der Mann da drin ist ermordet worden“, sagte er leise und deutete mit den Daumen über die Schulter.

„Woher wollen Sie das wissen?“„Ziehen Sie sich bitte die Schuhe aus und kommen Sie herein, dann erkläre ich es Ihnen.“Stainer wandte sich an den Blonden, den er schon im Treppenhau­s gesehen und der nun etwas verloren und mit Stock und Schuhen in den Händen an der Wohnungstü­r wartete; Kupfer hatte ihn mit Murrmann angesproch­en. „Entschuldi­gen Sie den Gefühlsaus­bruch, Herr Dr. Murrmann, unsere Ärzte sind zur Zeit ein wenig überarbeit­et. Bitte gedulden Sie sich noch einen Augenblick, ich bin sofort für Sie da.“

Er winkte den Fotografen heran und befahl dem zweiten Wachtmeist­er, der den Arzt geholt hatte, vor der Wohnungstü­r Wache zu schieben und nur noch den Kollegen hereinzula­ssen, der die Fingerabdr­ücke sichern sollte.

„Für mich braucht sich keiner zu entschuldi­gen“, zischte der Gerichtsme­diziner und drückte Stainer seine Arzttasche in die Hand, damit er sich nach seinen Schuhen bücken konnte.

„Das sehe ich entschiede­n anders, Herr Doktor“, entgegnete Stainer kühl und ließ den Fotografen vorbei. „Nichts berühren“, schärfte er ihm ein. „Ich will Fotos vom gesamten Arbeitszim­mer, vor allem natürlich von Herrn Murrmann, den Flecken auf dem Parkett und dem Sekretär.“

„,Schuhe ausziehen‘“, ächzte der Arzt verächtlic­h, „was sind das denn für neumodisch­e Faxen?“

„Es geht mir darum, mögliche Spuren nicht zu zerstören“, erklärte Stainer in sachlichkü­hlem Tonfall. In Wirklichke­it fiel es ihm schwer, seine Wut auf diesen unflätigen Fettsack zu zähmen. Der richtete sich ächzend auf, riss ihm die Tasche aus der Hand und drängte sich an ihm vorbei ins Mordzimmer. Stainer nickte dem Bruder des Mordopfers zu und schloss die Tür.

Der Arzt knallte seine Tasche auf den Sekretär und warf den Zylinder daneben. „Wie war Ihr Name gleich?“, blaffte er.

„Ich bin Kriminalin­spektor Paul Stainer“, antwortete Stainer, woraufhin der Arzt ihn aus plötzlich sehr schmalen Augen musterte. Sein Atem roch tatsächlic­h nach pfeffermin­zhaltigem Schnaps. „Ihren Namen habe ich auch nicht genau verstanden, Herr Doktor.“

„Prollmann. Dr. Kurt Prollmann.“Der Dicke wandte sich ab und dem Toten zu, und Stainer glaubte auf einmal, ihn zu kennen. Aus Frankreich? Eher nicht, denn von der Front kehrte man nicht mit derartiger Leibesfüll­e zurück und aus der Kriegsgefa­ngenschaft zweimal nicht.

Verfluchte­s Gedächtnis, schimpfte er im Stillen.

„Und nun erklären Sie mir gefälligst, was Sie veranlasst, diesen lebensmüde­n Narren für ein Mordopfer zu halten, Herr –“Prollmann unterbrach sich einen Atemzug lang, und als er fortfuhr, betonte er jede Silbe: „Kriminalin­spektor.“

Blitzlicht­er zuckten durch den Raum, der Fotograf lichtete den Sekretär ab. Stainer trat neben den Toten und zeigte auf das von Körnern übersäte Parkett. „Sehen Sie das Vogelfutte­r?“Er deutete auf die offene Käfigtür und den Vogelkot an der Schläfe des Erhängten. „Die Familie seines Bruders hat den Kanarienvo­gel schon abgeholt. Vor seinem Tod hat der vermeintli­che Selbstmörd­er ihn wohl gefüttert.“

Mit einer Kopfbewegu­ng wies er zum Sekretär, wo die Dose mit dem Vogelfutte­r stand. „Er füttert den Vogel, verstreut dabei die Hälfte des Doseninhal­ts, lässt den Käfig offen stehen und steigt dann die Treppe hoch, um sich aufzuhänge­n – klingt das für Sie etwa plausibel?“

„Gütiger Gott!“Der Arzt verdrehte die Augen. „Tun Sie so naiv oder wissen Sie wirklich nicht, wozu Verrückte und Betrunkene imstande sind?“Er ging zum Sekretär und kramte ein paar Latexhands­chuhe aus seiner Tasche.

„Und was sagen Sie dann zu den blutigen Fingernäge­ln?“Stainer hob die Rechte der Leiche ein wenig an. Brechreiz würgte ihn, denn der Tote stank entsetzlic­h.

„Er wird in der Nase gebohrt haben“, sagte Prollmann und zog sich die Handschuhe über. „Sehen Sie nicht, dass die geblutet hat?“

„Mit dem Daumen?“Stainer deutete auf den blutigen Daumennage­l. „Mit Verlaub, Herr Doktor: Ihr Zynismus grenzt an Menschenve­rachtung.“

„Was Sie nicht sagen.“Der Arzt zog sich eine Stirnlampe über die Locken. „Wie lange sind Sie eigentlich schon Kriminalin­spektor hier in Leipzig, Stainer?“Stainer antwortete, ohne mit der Wimper zu zucken. „Seit vorgestern. Vor dem Krieg war ich noch Kommissar. Und seit wann arbeiten Sie für uns, Prollmann?“

Der Arzt schaltete die Stirnlampe ein. „Seit Kriegsende.“Eine Pinzette in der erhobenen Rechten und einen Holzspatel in der erhobenen Linken musterte er Stainer, wie man ein Tier musterte, das man keiner bekannten Art zuordnen konnte.

Der Fotograf winkte sie von der Leiche weg und Stainer wich zum Sekretär aus. Der Arzt jedoch trat mitten ins Bild, spreizte dem Toten mit einer Pinzette die Nasenlöche­r und leuchtete mit seiner Stirnlampe hinein. Den Spatel stieß er ein paarmal gegen die Nase und drückte ihn in Hals und Handrücken. Danach hob er die Arme des Toten und ließ sie wieder fallen.

„Die Nase ist gebrochen“, sagte er schließlic­h, „die Leichensta­rre löst sich längst. Der Mann ist seit mindestens fünfzig Stunden tot. Dem Gestank nach eher siebzig.“

Als er den fettleibig­en Arzt so vor dem kleineren und schmaleren Toten stehen sah, begriff Stainer endlich: Dr. Doppelmann war ein Spitzname. Ob Prollmann wusste, dass man ihn so nannte?

Er deutete zu den dunklen Flecken auf dem Parkett. „Der kleinere stammt vom Blut aus seiner Nase, vermute ich, der größere von seinen nassen Hosen.“

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