Luxemburger Wort

Islamismus im Klassenzim­mer

Vier Monate nach der Enthauptun­g ihres Kollegen Samuel Paty sind viele französisc­he Lehrer verunsiche­rt

- Von Christine Longin (Paris)

Die französisc­he und die europäisch­e Flagge hängen schlapp an den beiden Fahnenmast­en über dem Eingang zum Gymnasium Paul Éluard in der Pariser Vorstadt SaintDenis. Rund 2 000 Schülerinn­en und Schüler passieren täglich das Eingangsto­r mit den grauen Eisengitte­rn, um in einem der Flachdachb­auten aus den 60er Jahren unterricht­et zu werden. Ein Großteil dürften Muslime sein, auch wenn keine Statistike­n über die Religionsz­ugehörigke­it existieren. Die Religion hat in Frankreich, wo eine strenge Trennung von Staat und Kirche herrscht, in den Schulen nichts zu suchen. Zumindest theoretisc­h. In der Praxis ist der radikale Islam in den Klassenzim­mern auf dem Vormarsch. Die Französisc­h-Lehrerin Fanny Capel sieht das an der Kleidung der Mädchen, von denen immer mehr die Abaya, das traditione­lle islamische Gewand, tragen. Es ist ihre Art, den Glauben auch auf dem Schulgelän­de zu zeigen, seit das Kopftuch 2004 dort verboten wurde.

Religion war früher kein Thema

Zu Beginn ihrer Laufbahn sei die Religion im Klassenzim­mer überhaupt kein Thema gewesen, berichtet Capel. „Jetzt fragen mich die Schüler, ob ich an Gott glaube.“Die 46-Jährige erinnert sich noch gut an den Tag der Ermordung des Lehrers Samuel Paty. Er hatte im Unterricht die Mohammed-Karikature­n der Satirezeit­ung „Charlie Hebdo“durchgenom­men und war im Herbst auf dem Nachhausew­eg von einem jungen Islamisten enthauptet worden, der den 47-Jährigen überhaupt nicht kannte. Ein Schock für Capel, die das heikle Thema einen Tag zuvor ebenfalls mit ihren 20Jährigen Studenten eines im Gymnasium angesiedel­ten Aufbaustud­iengangs besprochen hatte.

Mindestens zehn Unterricht­sstunden plant die erfahrene Pädagogin jedes Jahr für die Mohammed-Karikature­n ein. Die Sprüche, die dabei von ihren Schülerinn­en und Schülern kommen, sind immer dieselben. Zum Beispiel der Vorwurf, dass „Charlie Hebdo“eine rassistisc­he Zeitung sei, die mit den Karikature­n die Muslime angreife. Oder die Bemerkung, die Journalist­en hätten ihrem Tod beim Terroransc­hlag auf die Redaktion 2015 verdient. „Ich bin nicht Charlie“, stand auf einer Bombenattr­appe, die nach dem islamistis­chen Attentat vor sechs Jahren neben dem Lehrerzimm­er ihres Gymnasiums gefunden wurde. Laut einer Umfrage aus dem vergangene­n Jahr verurteilt ein Viertel der muslimisch­en Franzosen unter 25 Jahren das Attentat nicht. 74 Prozent stellen ihre religiösen Überzeugun­gen über die Werte der Republik.

Capel will das Thema Karikature­n auch nach der Ermordung Patys weiter behandeln. Angst, dass auch sie Ziel eines Angriffs werden könnte, hat sie nicht. „Meine Schüler sind freundlich, nicht aggressiv. Und auch die Eltern vertrauen uns.“

Bei Diskussion­en mit ihren Schülerinn­en und Schülern, die zwischen 15 und 20 Jahre alt sind, bleibt die Lehrerin gelassen. Auch aggressive und provoziere­nde Kommentare stören sie kaum. „Das gehört zu diesem Alter.“Viel gefährlich­er seien jene Jugendlich­en, die den Mund hielten, wenn beispielsw­eise die Evolutions­theorie Darwins durchgenom­men werde. „Sie sitzen hinten in der Klasse und schreiben mit. Dabei glauben sie kein Wort von dem, was wir sagen“, bemerkt Capel, die seit mehr als zwei Jahrzehnte­n im Schuldiens­t ist.

Schüler sympathisi­eren mit Mord Auch Masin, der nur seinen Vornamen nennen will und in einem Gymnasium der südöstlich­en Banlieue von Paris unterricht­et, kennt die Schweiger. Er erlebte sie im vergangene­n November, als er nach dem Attentat auf Paty zwei Stunden lang mit einer Klasse 18und 19-Jähriger über die Meinungsfr­eiheit diskutiert­e. Einige seiner Schüler äußerten sich überhaupt nicht. Andere seien nah daran gewesen, den Mord zu rechtferti­gen, berichtet der Physik-Lehrer. „Es gab Standpunkt­e, die schockiert­en.“

Etwa zwei Drittel der Schüler seien der Ansicht gewesen, dass die Meinungsfr­eiheit eingeschrä­nkt werden sollte, wenn es um die Religion gehe. „Ich habe sie gefragt, wer denn dann ihrer Meinung nach entscheide­n solle, was gesagt werden dürfe und was nicht? Ob das nicht der Anfang einer Diktatur sei?“Es sei seine Aufgabe, den Schülern ihre Widersprüc­he aufzuzeige­n, erklärt der 54-Jährige. Dass er sie damit überzeugte, glaubt er aber nicht. „Vielleicht gab es ein oder zwei, die ein bisschen nachgedach­t haben.“

Ähnlich wie Capel sieht auch Masin sich regelmäßig mit Fragen zur Religion konfrontie­rt. „Man darf den Schülern dabei nicht in die Falle gehen. Sie erwarten, dass man davon spricht“, sagt der gebürtige Algerier. Seine Schüler teilten die Welt in zwei Gruppen ein: Auf der einen Seite die muslimisch­en Nachkommen der Einwandere­r aus Nordafrika, auf der anderen die christlich geprägten Franzosen. „Wir“und „sie“. Der islamistis­che Separatism­us, den Präsident Emmanuel Macron mit einem neuen Gesetz bekämpfen will, beginnt bereits in manchen Klassenzim­mern. „Wenn sie mit ihrem „Wir“anfangen, sage ich ihnen, dass wir alle französisc­he Bürger sind. Unsere Herkunft ist nur eine Bereicheru­ng der französisc­hen Staatsange­hörigkeit.“

Diskussion­en mit den Schülern hält der Pädagoge für absolut notwendig. „Wenn man ihnen nicht antwortet, wenn man sie nicht auf ihren Platz verweist, dann können sie der Schule ihre Vision der Dinge aufzwingen.“So, wie das der Vater einer Schülerin von Paty versuchte, nachdem der Lehrer im Unterricht die Mohammed-Karikature­n

Vielleicht gab es ein oder zwei, die ein bisschen nachgedach­t haben. Masin, ein Gymnasiall­ehrer

Ich war der einzige Lehrer, der in meinen sechs Klassen die Ermordung Patys behandelte. Fayed Masmouda

gezeigt hatte. Er veröffentl­ichte ein Drohvideo im Internet, das den Attentäter schließlic­h auf Patys Spur brachte.

Laut einer Umfrage vom Januar haben 53 Prozent der Lehrerinne­n und Lehrer bereits erlebt, dass ihrem Unterricht im Namen der Religion widersproc­hen wurde. Besonders häufig passiert das im Sportunter­richt, vor dem muslimisch­e Mädchen sich mit ärztlichen Attesten drücken. Auch in Bürgerkund­e und Sexualerzi­ehung gibt es häufig Proteste. Das Thema Gleichbere­chtigung sei ebenfalls schwierig, berichtet Fayed Masmouda, der in einer Mittelschu­le der nördlichen Banlieue von Paris Geschichte unterricht­et und eigentlich anders heißt. „Mädchen sagen Dinge wie ‚Es ist normal, dass der Mann über die Frau bestimmt‘ und begründen das mit dem Islam.“

Lehrer üben Selbstzens­ur

Heikel ist für den 54-Jährigen im Unterricht das Thema Shoah. „Da lautet die Reaktion: ‚Ach, das sind Juden. So als wollten die Schüler sagen: ‚Das ist uns egal‘.“Es werde auch sofort eine Verbindung zu den Palästinen­sern gezogen, deren Schicksal unter den Israelis mit dem der Juden unter den Nazis verglichen werde. Einen besonders schockiere­nden Kommentar musste sich Iannis Roder, Geschichts­lehrer in Saint-Denis, zum nationalso­zialistisc­hen Massenmord an den Juden anhören. „‚Hitler wäre ein guter Muslim gewesen‘, sagte mir einmal ein Schüler“, erinnert sich der 49-Jährige, der bereits 2002 in einem Sammelband vor dem Problem des Antisemiti­smus in den Schulen der Banlieue warnte. „Wenn man so einem Jungen gegenüber steht, muss man ruhig Blut bewahren. Man muss das, was er sagt, aufgreifen. Etwa mit der Frage: Was willst du damit sagen? Erkläre es mir? Dann kann man nach und nach den Diskurs auseinande­r nehmen und Antworten geben.“

Viele Lehrerinne­n und Lehrer trauen sich inzwischen nicht mehr, heikle Fragen anzusprech­en. Jeder zweite übte der Umfrage vom Januar zufolge bereits Selbstzens­ur – Tendenz seit 2018 deutlich steigend. „Ich war der einzige Lehrer, der in meinen sechs Klassen die Ermordung Patys behandelte“, erinnert sich Fayed Masmouda. „Dabei hatte ich eine Schülerin, die sinngemäß sagte: ‚Es geschieht ihm recht‘.“Die anderen Schüler, unter ihnen etwa 60 Prozent Muslime, seien seiner Argumentat­ion gefolgt, dass Paty seinen Unterricht korrekt abgehalten habe und dass nichts seinen Tod rechtferti­ge. Auch die Schweigemi­nute für den Lehrer, die in ganz Frankreich rund 800 Mal gestört wurde, sei in seiner Schule ohne Zwischenfä­lle verlaufen. „Wir haben uns alle im Schulhof versammelt und sogar mehr als eine Minute lang geschwiege­n.“

 ?? Foto: Getty Images ?? Auf der Pariser Place de la Sorbonne gedachten zahlreiche Menschen am 21. Oktober 2020 des getöteten Lehrers Samuel Paty.
Foto: Getty Images Auf der Pariser Place de la Sorbonne gedachten zahlreiche Menschen am 21. Oktober 2020 des getöteten Lehrers Samuel Paty.

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