Die Sache mit den Messern
Weiterer blutiger Vorfall verführt zu voreiligen Schlussfolgerungen – eine Analyse
Luxemburg. „Man hat das Gefühl, die Taschentücher würden langsam aber sicher durch Messer in der Tasche ersetzt“, kommentiert ein Leser gestern Nachmittag auf wort.lu eine Meldung über eine weitere Messerstecherei unter Jugendlichen im Großherzogtum. Der Gedanke ist nachvollziehbar, doch entspricht er tatsächlich der Realität?
Ein analytischer Blick muss sich zunächst auf die Fakten richten: Es gab jüngst drei schwerwiegende Gewaltausbrüche, in die Jugendliche verwickelt waren, bei denen ein Messer zum Einsatz kam und, bei denen sehr leichtfertig mit Menschenleben gespielt wurde.
Rangelei in Kirchberg endet mit Messerstich
Zuletzt am Montag: LW-Informationen zufolge, die später von Staatsanwaltschaft und Polizei bestätigt wurden, provoziert ein 17jähriger Mann eine 18-jährige Bekannte vor der europäischen Schule am Boulevard Konrad Adenauer in Kirchberg mit Worten und Gesten. Der Freund der jungen Frau, ein 20-Jähriger, mischt sich ein und zieht ein Messer. Aus der Situation entwickelt sich eine Rangelei, die mit einem tiefen Stich in den Brustkorb des 18-jährigen Mädchens endet. Der 20-Jährige bleibt bei seiner Freundin. Der 17-Jährige flüchtet, wird später aber von der Polizei gestellt.
Das Opfer erleidet schwere Verletzungen, doch hat Glück: Es wurden keine lebenswichtigen Organe getroffen. Nach einer Erstversorgung durch einen Notarzt wird sie im Krankenhaus operiert. Es besteht keine Lebensgefahr. Vorliegenden Informationen zufolge werden mehrere Schüler unterschiedlichen Alters und auch Lehrkräfte Zeugen des Vorfalls.
Wie genau es dazu kam, dass das Mädchen in den Brustkorb gestochen wurde, ist Gegenstand von Ermittlungen.
Bonneweg, vor einem Monat: 18-Jähriger stirbt nach Gewalt
Weit weniger Glück als das Mädchen in Kirchberg hatte ein 18-jähriger Mann am vergangenen 26. Januar in Bonneweg. In der Cour du Couvent, eine der beschaulicheren Ecken im Zentrum des Stadtviertels, kommt es in der abendlichen Dunkelheit zu einem Streit zwischen Jugendlichen und am Ende liegt ein junger Mann tot in einer Blutlache. Die intensiven Mühen eines Notarzts am Tatort sind vergebens. Der 18-Jährige stirbt an seinen schweren Stichverletzungen.
Die pietätlosen Fotos, die ein Anwohner vom Fenster aus macht und zunächst den Rettungseinsatz und später den unverhüllten Toten in Großaufnahme zeigen, verbreiten sich rasend schnell in sozialen Medien. Darüber, was geschehen ist, und was einen Menschen dazu bewegt hat, eine tödliche Waffe zu zücken und einzusetzen, sagen sie nichts aus.
Als wäre der Schrecken der Bluttat nicht ausreichend, kommt noch ein anderer bedrückender Umstand hinzu: Die Tatverdächtigen, die in der Folge festgenommen werden, sind sehr jung. Sie sind minderjährig – einer ist 15, der andere 17.
Auch ihre Fotos werden tausendfach in Messengerdiensten geteilt. Dazu kommen gezielte Fehlinformationen: So werden Bilder verbreitet, die einen der beiden Verdächtigen beim Joint Rauchen in der geschlossenen Jugendhaftanstalt Unisec in Dreiborn zeigen sollen. Die Staatsanwaltschaft geht der Sache nach, es stellt sich heraus, dass die Bilder älter sind und der Hintergrund nicht nach Dreiborn passt. In der Schule des Opfers verbreitetet sich in den Tagen nach der Tat das Gerücht, beim Streit sei es um zwölf Gramm Haschisch gegangen – ein völlig belangloser Anlass für den Verlust eines Menschenlebens.
Während Jugendliche vorrangig Betroffenheit zeigen, ist der Aufschrei in der Erwachsenenwelt groß. Vor allem, weil es zwei Tage später zu einem weiteren Messervorfall mit einem minderjährigen mutmaßlichen Täter und einem leichtverletzten Opfer im Bahnhofsviertel kommt – die Umstände bleiben völlig unklar. Es wird lediglich klargestellt, dass es keinen Zusammenhang zur Tat in Bonneweg gibt.
Die öffentliche Diskussion, die folgt, zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie weit von Tatsachen entfernt liegt: Es wird der Anschein erweckt, die Jugendkriminalität sei völlig außer Kontrolle geraten. Als deren Hort wird Bonneweg stigmatisiert.
Dabei gibt es weder Hinweise dafür, dass sich die Jugendkriminalität jüngst verstärkt haben soll, noch dafür, dass diese in Bonneweg problematischer ist, als in sonstigen Ballungsgebieten. Und Drogenhandel und Gewalt gibt es – obwohl weder Eltern noch Schulleiter das hören wollen – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an jeder Schule im Land. Tatsache ist lediglich, dass es nun drei Vorfälle gab, die zeitlich nahe aneinander liegen.
Der Mord an Elvis K. – Bluttat im Jahr 2008
Tötungsdelikte und entsprechende Taten, bei denen es beim Versuch blieb, sind in Luxemburg nach wie vor eine absolute Ausnahme. Im vergangenen Jahrzehnt wurden sehr wohl mehrere Fälle vor Kriminalkammern behandelt, bei denen spätnachts betrunkene junge Erwachsene vor Diskotheken aneinandergeraten waren. Dabei gab es Verletzte und auch über den Zeitraum von zehn Jahren mehrere Tote. Als Beispiel für Jugendkriminalität dienen diese Fälle wegen der komplett anders gelagerten Umstände aber kaum.
Der letzte vergleichbare Fall liegt 13 Jahre zurück: Bei einer Massenschlägerei am Escher Bahnhof stirbt am 18. April 2008 der damals 18-jährige Elvis K. nach Messerstichen in die Brust.
Hintergrund in diesem Fall war eine Gruppendynamik, die über Jahre sowohl in den Südmetropolen, als auch in der Hauptstadt und in Ettelbrück und Diekirch zu teils schweren Auseinandersetzungen geführt hatte. Konflikte, die über die Jahre wuchsen und immer wieder neu eskalierten. Jugendarbeit einerseits aber andererseits auch Strafverfolgung mit am Ende hohen Haftstrafen für überführte Täter haben das Problem zumindest aktuell eingedämmt.
Das alles führt immer noch nicht zur Erkenntnis einer zunehmenden Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen. Ausführliche Statistiken sind kaum vorhanden. Der Aktivitätsbericht 2017 war der letzte, in dem die Polizei umfangreiches Zahlenmaterial vorlegte. Im Anschluss beschränkten sich die Sicherheitskräfte auf eher allgemeinere Feststellungen.
Statistiken widersprechen politischem Diskurs
Der Bericht von 2017, in dem sich ein ganzes Kapitel mit minderjährigen Tätern befasst, zeigt allerdings deutlich, dass die Zahl der Straftaten, bei denen Minderjährige verantwortlich gemacht werden, zwischen 2013 und 2017 durchweg stabil geblieben ist: 10,6 Prozent aller Straftaten wurden 2013 von Minderjährigen begangen, 8,4 Prozent im Jahr 2015 und 9,3 Prozent 2017. Die Entwicklung bei den unter 25-jährigen Tätern ist vergleichbar. Ermittler aus dem Jugendbereich bestätigen hinter vorgehaltener Hand gerne, dass diese Tendenz sich seitdem kaum verändert hat.
Fakt bleibt, dass es Jugendkriminalität gibt. Diese pauschal angehen zu wollen, kann nicht funktionieren. Vielmehr ist die Ursachenforschung wichtig und daher die Betrachtung der Einzelfälle und Schicksale. Das Gleichgewicht zwischen Jugendschutz und Bestrafung zu halten, ist dabei eine Angelegenheit der Justiz. Die Frage zum Politikum zu machen, wäre nicht nur kontraproduktiv, sondern gefährlich – weil dies nur am Problem vorbeiführen kann.