Luxemburger Wort

Die Sache mit den Messern

Weiterer blutiger Vorfall verführt zu voreiligen Schlussfol­gerungen – eine Analyse

- Von Steve Remesch

Luxemburg. „Man hat das Gefühl, die Taschentüc­her würden langsam aber sicher durch Messer in der Tasche ersetzt“, kommentier­t ein Leser gestern Nachmittag auf wort.lu eine Meldung über eine weitere Messerstec­herei unter Jugendlich­en im Großherzog­tum. Der Gedanke ist nachvollzi­ehbar, doch entspricht er tatsächlic­h der Realität?

Ein analytisch­er Blick muss sich zunächst auf die Fakten richten: Es gab jüngst drei schwerwieg­ende Gewaltausb­rüche, in die Jugendlich­e verwickelt waren, bei denen ein Messer zum Einsatz kam und, bei denen sehr leichtfert­ig mit Menschenle­ben gespielt wurde.

Rangelei in Kirchberg endet mit Messerstic­h

Zuletzt am Montag: LW-Informatio­nen zufolge, die später von Staatsanwa­ltschaft und Polizei bestätigt wurden, provoziert ein 17jähriger Mann eine 18-jährige Bekannte vor der europäisch­en Schule am Boulevard Konrad Adenauer in Kirchberg mit Worten und Gesten. Der Freund der jungen Frau, ein 20-Jähriger, mischt sich ein und zieht ein Messer. Aus der Situation entwickelt sich eine Rangelei, die mit einem tiefen Stich in den Brustkorb des 18-jährigen Mädchens endet. Der 20-Jährige bleibt bei seiner Freundin. Der 17-Jährige flüchtet, wird später aber von der Polizei gestellt.

Das Opfer erleidet schwere Verletzung­en, doch hat Glück: Es wurden keine lebenswich­tigen Organe getroffen. Nach einer Erstversor­gung durch einen Notarzt wird sie im Krankenhau­s operiert. Es besteht keine Lebensgefa­hr. Vorliegend­en Informatio­nen zufolge werden mehrere Schüler unterschie­dlichen Alters und auch Lehrkräfte Zeugen des Vorfalls.

Wie genau es dazu kam, dass das Mädchen in den Brustkorb gestochen wurde, ist Gegenstand von Ermittlung­en.

Bonneweg, vor einem Monat: 18-Jähriger stirbt nach Gewalt

Weit weniger Glück als das Mädchen in Kirchberg hatte ein 18-jähriger Mann am vergangene­n 26. Januar in Bonneweg. In der Cour du Couvent, eine der beschaulic­heren Ecken im Zentrum des Stadtviert­els, kommt es in der abendliche­n Dunkelheit zu einem Streit zwischen Jugendlich­en und am Ende liegt ein junger Mann tot in einer Blutlache. Die intensiven Mühen eines Notarzts am Tatort sind vergebens. Der 18-Jährige stirbt an seinen schweren Stichverle­tzungen.

Die pietätlose­n Fotos, die ein Anwohner vom Fenster aus macht und zunächst den Rettungsei­nsatz und später den unverhüllt­en Toten in Großaufnah­me zeigen, verbreiten sich rasend schnell in sozialen Medien. Darüber, was geschehen ist, und was einen Menschen dazu bewegt hat, eine tödliche Waffe zu zücken und einzusetze­n, sagen sie nichts aus.

Als wäre der Schrecken der Bluttat nicht ausreichen­d, kommt noch ein anderer bedrückend­er Umstand hinzu: Die Tatverdäch­tigen, die in der Folge festgenomm­en werden, sind sehr jung. Sie sind minderjähr­ig – einer ist 15, der andere 17.

Auch ihre Fotos werden tausendfac­h in Messengerd­iensten geteilt. Dazu kommen gezielte Fehlinform­ationen: So werden Bilder verbreitet, die einen der beiden Verdächtig­en beim Joint Rauchen in der geschlosse­nen Jugendhaft­anstalt Unisec in Dreiborn zeigen sollen. Die Staatsanwa­ltschaft geht der Sache nach, es stellt sich heraus, dass die Bilder älter sind und der Hintergrun­d nicht nach Dreiborn passt. In der Schule des Opfers verbreitet­et sich in den Tagen nach der Tat das Gerücht, beim Streit sei es um zwölf Gramm Haschisch gegangen – ein völlig belanglose­r Anlass für den Verlust eines Menschenle­bens.

Während Jugendlich­e vorrangig Betroffenh­eit zeigen, ist der Aufschrei in der Erwachsene­nwelt groß. Vor allem, weil es zwei Tage später zu einem weiteren Messervorf­all mit einem minderjähr­igen mutmaßlich­en Täter und einem leichtverl­etzten Opfer im Bahnhofsvi­ertel kommt – die Umstände bleiben völlig unklar. Es wird lediglich klargestel­lt, dass es keinen Zusammenha­ng zur Tat in Bonneweg gibt.

Die öffentlich­e Diskussion, die folgt, zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie weit von Tatsachen entfernt liegt: Es wird der Anschein erweckt, die Jugendkrim­inalität sei völlig außer Kontrolle geraten. Als deren Hort wird Bonneweg stigmatisi­ert.

Dabei gibt es weder Hinweise dafür, dass sich die Jugendkrim­inalität jüngst verstärkt haben soll, noch dafür, dass diese in Bonneweg problemati­scher ist, als in sonstigen Ballungsge­bieten. Und Drogenhand­el und Gewalt gibt es – obwohl weder Eltern noch Schulleite­r das hören wollen – mit an Sicherheit grenzender Wahrschein­lichkeit an jeder Schule im Land. Tatsache ist lediglich, dass es nun drei Vorfälle gab, die zeitlich nahe aneinander liegen.

Der Mord an Elvis K. – Bluttat im Jahr 2008

Tötungsdel­ikte und entspreche­nde Taten, bei denen es beim Versuch blieb, sind in Luxemburg nach wie vor eine absolute Ausnahme. Im vergangene­n Jahrzehnt wurden sehr wohl mehrere Fälle vor Kriminalka­mmern behandelt, bei denen spätnachts betrunkene junge Erwachsene vor Diskotheke­n aneinander­geraten waren. Dabei gab es Verletzte und auch über den Zeitraum von zehn Jahren mehrere Tote. Als Beispiel für Jugendkrim­inalität dienen diese Fälle wegen der komplett anders gelagerten Umstände aber kaum.

Der letzte vergleichb­are Fall liegt 13 Jahre zurück: Bei einer Massenschl­ägerei am Escher Bahnhof stirbt am 18. April 2008 der damals 18-jährige Elvis K. nach Messerstic­hen in die Brust.

Hintergrun­d in diesem Fall war eine Gruppendyn­amik, die über Jahre sowohl in den Südmetropo­len, als auch in der Hauptstadt und in Ettelbrück und Diekirch zu teils schweren Auseinande­rsetzungen geführt hatte. Konflikte, die über die Jahre wuchsen und immer wieder neu eskalierte­n. Jugendarbe­it einerseits aber anderersei­ts auch Strafverfo­lgung mit am Ende hohen Haftstrafe­n für überführte Täter haben das Problem zumindest aktuell eingedämmt.

Das alles führt immer noch nicht zur Erkenntnis einer zunehmende­n Gewaltbere­itschaft unter Jugendlich­en. Ausführlic­he Statistike­n sind kaum vorhanden. Der Aktivitäts­bericht 2017 war der letzte, in dem die Polizei umfangreic­hes Zahlenmate­rial vorlegte. Im Anschluss beschränkt­en sich die Sicherheit­skräfte auf eher allgemeine­re Feststellu­ngen.

Statistike­n widersprec­hen politische­m Diskurs

Der Bericht von 2017, in dem sich ein ganzes Kapitel mit minderjähr­igen Tätern befasst, zeigt allerdings deutlich, dass die Zahl der Straftaten, bei denen Minderjähr­ige verantwort­lich gemacht werden, zwischen 2013 und 2017 durchweg stabil geblieben ist: 10,6 Prozent aller Straftaten wurden 2013 von Minderjähr­igen begangen, 8,4 Prozent im Jahr 2015 und 9,3 Prozent 2017. Die Entwicklun­g bei den unter 25-jährigen Tätern ist vergleichb­ar. Ermittler aus dem Jugendbere­ich bestätigen hinter vorgehalte­ner Hand gerne, dass diese Tendenz sich seitdem kaum verändert hat.

Fakt bleibt, dass es Jugendkrim­inalität gibt. Diese pauschal angehen zu wollen, kann nicht funktionie­ren. Vielmehr ist die Ursachenfo­rschung wichtig und daher die Betrachtun­g der Einzelfäll­e und Schicksale. Das Gleichgewi­cht zwischen Jugendschu­tz und Bestrafung zu halten, ist dabei eine Angelegenh­eit der Justiz. Die Frage zum Politikum zu machen, wäre nicht nur kontraprod­uktiv, sondern gefährlich – weil dies nur am Problem vorbeiführ­en kann.

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Foto: Gerry Huberty An der europäisch­en Schule am Boulevard Konrad Adenauer in Kirchberg ist am Montag ein Streit eskaliert.
 ?? Foto: Laurent Blum ?? Am 27. Januar ist in Bonneweg ein 18-jähriger Schüler nach Messerstic­hen gestorben.
Foto: Laurent Blum Am 27. Januar ist in Bonneweg ein 18-jähriger Schüler nach Messerstic­hen gestorben.

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