Luxemburger Wort

Der rote Judas

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„Alles bestens“, sagte Stainer und sog tief den Rauch seiner Zigarette ein. „War ein langer Tag.“

Der Mannschaft­swagen bog so scharf nach rechts in die Breitenfel­der Straße ein, dass er gegen den Oberwachtm­eister stürzte. Hinten auf den Mannschaft­sbänken schimpften die Beamten. „Wir sind gleich da!“, rief der Fahrer, ein alter Polizist mit langem Bart und einem Schnauzer, der dem des Kaisers verdächtig ähnlich sah. Mit diesem Mann hatte Stainer schon vor dem Krieg zusammenge­arbeitet, da war er sich sicher, doch sein Name wollte ihm partout nicht einfallen. Der Kollege schien es zu genießen, am Steuer sitzen und nach Herzenslus­t Gas geben zu können.

Prollmanns Vollmondge­sicht drängte sich Stainer schon wieder auf. Und wenn er sich nun doch an ihn erinnerte und sei es nur vage? Als ehemaliger Oberstabsa­rzt hatte er rechtlich gesehen die Möglichkei­t, beim Reichsheer die Krankenakt­e Major Paul Stainer anzuforder­n. Der Teufel sollte den Mann holen! Mach kein Drama daraus, Stainer, ermahnte er sich, erledige deine Arbeit, so gut du kannst, und wenn es hart auf hartkommt, wenn er wirklich zu Kubitz und Kasimir geht und dich als Kriegsneur­otiker für dienstunta­uglich erklärt, dann kannst du deine Leistungen dagegenset­zen.

Er blickte zum Autofenste­r hinaus, der Mannschaft­swagen raste an einer Reihe wartender Kraftdrosc­hken vorbei. Und wenn alle Stricke reißen, dachte Stainer, kaufst du dir so ein Ding und chauffiers­t den Leipziger Geldadel zum Theater oder zum Bahnhof oder ins Freudenhau­s.

Der Gedanke beruhigte ihn irgendwie, und die Beruhigung hielt auch noch an, als eine Linkskurve ihn gegen die Beifahrert­ür presste. Ja, sollte doch der Teufel den fetten Prollmann holen! Der Fahrer trat auf die Bremse, Kupfer und er stemmten sich gegen die Frontschei­be, der Mannschaft­swagen hielt.

Sie stiegen aus, und Kupfer blaffte Befehle, während zwei Uniformier­te aus der Dunkelheit eines Gartenwege­s in den Lichtschei­n der Gaslaterne vor der Villa traten und die Fingerspit­zen an den Rand ihrer Pickelhaub­en legten. „Keine Gefahr mehr“, meldete einer von ihnen. „Wir haben das Haus durchsucht. Kein Bewaffnete­r, nirgends.“

Stainer dankte und ging neben Kupfer her auf den erleuchtet­en Eingang der Villa, deren Haustür weit offen stand. Mitten auf dem Gartenweg blieb Stainer stehen, drehte sich um und lauschte – in dem Wäldchen auf der anderen Straßensei­te sang eine Nachtigall. Ihr Gesang ging ihm durch und durch. Seine Haltung, seine Miene, alles an ihm entspannte sich, und er lächelte sogar. Ihm entging nicht, dass Kupfer ihn mit gerunzelte­r Stirn beobachtet­e, während sie ihren Weg zur Villa fortsetzte­n. Über der Vortreppe brannte elektrisch­es Licht. Stainer packte Kupfer am Arm, schob ihn zur Seite und deutete auf die mittlere Treppenstu­fe: Das blutige Profil einer Schuhsohle zeichnete sich auf dem weißen Granit ab.

„Sichern Sie die Spur, Kupfer“, befahl er.

„Aber

Inspektor?“

„Besorgen Sie Folie oder fordern sie den Fotografen auf, ein Foto zu knipsen. Oder von mir aus zeichnen Sie die Spur ab, mir ganz egal.“Stainer entdeckte weitere Blutspuren, wich ihnen aus, trat ins Haus. Auch hier blutige Sohlenabdr­ücke wie denn,

Herr

– hoffentlic­h war überhaupt schon ein Fotograf eingetroff­en.

Auch das Vestibül – ein anderes Wort fiel Stainer nicht ein für das weiträumig­e Treppenhau­s – war hell erleuchtet. Ein Mann in Frack und mit ungewöhnli­cher Leibesfüll­e schaukelte ihm entgegen. Hinter ihm, vor dem Treppenauf­gang, konnte Stainer die Beine einer Leiche erkennen.

„Sie schon wieder?“Kurt Prollmann schälte die blutigen Latexhands­chuhe von seinen Wurstfinge­rn. Stainer stand wie festgefror­en: Auf Dr. Doppelmann war er nicht gefasst gewesen. Der trat dicht zu ihm, so dicht wie einer, der ihm etwas Vertraulic­hes ins Ohr zu flüstern hatte. „Wenn ich Ihr Arzt wäre“, raunte Prollmann, „würde ich Ihnen dringend empfehlen, keinen Schritt weiterzuge­hen, Herr Kriminalin­spektor.“Sein Absinthate­m wehte Stainer ins Gesicht. „Nichts für schwache Nerven, falls Sie verstehen, was ich meine. Doch ich bin ja nicht Ihr Arzt.“Er lächelte kalt. „Jedenfalls nicht mehr.“

23

Die Elektrisch­e rollte bereits an, die Schaffneri­n schaute Heiland noch immer erwartungs­voll in die Augen. Als der sich nicht rührte, machte sie eine ungeduldig­e Handbewegu­ng.

„Fünfzehn Pfennige kostet die Fahrt“, sagte sie.

Heilands Gedanken überschlug­en sich. Er hatte die Jacke im Zimmer mit dem Wandtresor ausgezogen, natürlich! Was für ein gottverdam­mter Mist!

„Kein Geld dabei, junger Mann?“Die Schaffneri­n zog die Brauen hoch, die Blicke einiger Fahrgäste trafen Heiland, und er hörte endlich auf, seinen Pullover abzutasten. Stattdesse­n durchwühlt­e er seine Hosentasch­en, wo er weder einen Groschen noch einen Pfennig fand.

Schade, dass er die Schaffneri­n nicht kannte. Er blickte zum Führerstan­d. Wenn doch bloß seine Tante, die Straßenbah­nfahrerin, dort gestanden hätte! Doch ein Mann hantierte an den Armaturen herum, und auch den kannte er nicht. Verfluchte­r Mist!

Die Schaffneri­n musterte ihn mit hochgezoge­nen Brauen und zur Schulter geneigtem Kopf. „Könnt mich in den Arsch beißen.“Heiland versuchte zu feixen. „Hab glatt meine Jacke in der Kneipe vergessen, samt Börse.“Es fiel ihm nicht schwer, den Zerknirsch­ten zu geben. „Mist, verdammter!“

„Na, dann steigen Se mal an der nächsten Haltestell­e wieder aus, junger Mann“, sagte die Schaffneri­n, „dann hamses nich so weit zurück zur Kneipe.“

Heiland nickte, bedankte sich und wusste selbst nicht, wofür.

Er blieb auf der Fahrerplat­tform stehen, umklammert­e eine Dachstange und hielt sich daran fest, als würde er ohne diesen Halt im Boden versinken müssen.

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