Der rote Judas
46
„Alles bestens“, sagte Stainer und sog tief den Rauch seiner Zigarette ein. „War ein langer Tag.“
Der Mannschaftswagen bog so scharf nach rechts in die Breitenfelder Straße ein, dass er gegen den Oberwachtmeister stürzte. Hinten auf den Mannschaftsbänken schimpften die Beamten. „Wir sind gleich da!“, rief der Fahrer, ein alter Polizist mit langem Bart und einem Schnauzer, der dem des Kaisers verdächtig ähnlich sah. Mit diesem Mann hatte Stainer schon vor dem Krieg zusammengearbeitet, da war er sich sicher, doch sein Name wollte ihm partout nicht einfallen. Der Kollege schien es zu genießen, am Steuer sitzen und nach Herzenslust Gas geben zu können.
Prollmanns Vollmondgesicht drängte sich Stainer schon wieder auf. Und wenn er sich nun doch an ihn erinnerte und sei es nur vage? Als ehemaliger Oberstabsarzt hatte er rechtlich gesehen die Möglichkeit, beim Reichsheer die Krankenakte Major Paul Stainer anzufordern. Der Teufel sollte den Mann holen! Mach kein Drama daraus, Stainer, ermahnte er sich, erledige deine Arbeit, so gut du kannst, und wenn es hart auf hartkommt, wenn er wirklich zu Kubitz und Kasimir geht und dich als Kriegsneurotiker für dienstuntauglich erklärt, dann kannst du deine Leistungen dagegensetzen.
Er blickte zum Autofenster hinaus, der Mannschaftswagen raste an einer Reihe wartender Kraftdroschken vorbei. Und wenn alle Stricke reißen, dachte Stainer, kaufst du dir so ein Ding und chauffierst den Leipziger Geldadel zum Theater oder zum Bahnhof oder ins Freudenhaus.
Der Gedanke beruhigte ihn irgendwie, und die Beruhigung hielt auch noch an, als eine Linkskurve ihn gegen die Beifahrertür presste. Ja, sollte doch der Teufel den fetten Prollmann holen! Der Fahrer trat auf die Bremse, Kupfer und er stemmten sich gegen die Frontscheibe, der Mannschaftswagen hielt.
Sie stiegen aus, und Kupfer blaffte Befehle, während zwei Uniformierte aus der Dunkelheit eines Gartenweges in den Lichtschein der Gaslaterne vor der Villa traten und die Fingerspitzen an den Rand ihrer Pickelhauben legten. „Keine Gefahr mehr“, meldete einer von ihnen. „Wir haben das Haus durchsucht. Kein Bewaffneter, nirgends.“
Stainer dankte und ging neben Kupfer her auf den erleuchteten Eingang der Villa, deren Haustür weit offen stand. Mitten auf dem Gartenweg blieb Stainer stehen, drehte sich um und lauschte – in dem Wäldchen auf der anderen Straßenseite sang eine Nachtigall. Ihr Gesang ging ihm durch und durch. Seine Haltung, seine Miene, alles an ihm entspannte sich, und er lächelte sogar. Ihm entging nicht, dass Kupfer ihn mit gerunzelter Stirn beobachtete, während sie ihren Weg zur Villa fortsetzten. Über der Vortreppe brannte elektrisches Licht. Stainer packte Kupfer am Arm, schob ihn zur Seite und deutete auf die mittlere Treppenstufe: Das blutige Profil einer Schuhsohle zeichnete sich auf dem weißen Granit ab.
„Sichern Sie die Spur, Kupfer“, befahl er.
„Aber
Inspektor?“
„Besorgen Sie Folie oder fordern sie den Fotografen auf, ein Foto zu knipsen. Oder von mir aus zeichnen Sie die Spur ab, mir ganz egal.“Stainer entdeckte weitere Blutspuren, wich ihnen aus, trat ins Haus. Auch hier blutige Sohlenabdrücke wie denn,
Herr
– hoffentlich war überhaupt schon ein Fotograf eingetroffen.
Auch das Vestibül – ein anderes Wort fiel Stainer nicht ein für das weiträumige Treppenhaus – war hell erleuchtet. Ein Mann in Frack und mit ungewöhnlicher Leibesfülle schaukelte ihm entgegen. Hinter ihm, vor dem Treppenaufgang, konnte Stainer die Beine einer Leiche erkennen.
„Sie schon wieder?“Kurt Prollmann schälte die blutigen Latexhandschuhe von seinen Wurstfingern. Stainer stand wie festgefroren: Auf Dr. Doppelmann war er nicht gefasst gewesen. Der trat dicht zu ihm, so dicht wie einer, der ihm etwas Vertrauliches ins Ohr zu flüstern hatte. „Wenn ich Ihr Arzt wäre“, raunte Prollmann, „würde ich Ihnen dringend empfehlen, keinen Schritt weiterzugehen, Herr Kriminalinspektor.“Sein Absinthatem wehte Stainer ins Gesicht. „Nichts für schwache Nerven, falls Sie verstehen, was ich meine. Doch ich bin ja nicht Ihr Arzt.“Er lächelte kalt. „Jedenfalls nicht mehr.“
23
Die Elektrische rollte bereits an, die Schaffnerin schaute Heiland noch immer erwartungsvoll in die Augen. Als der sich nicht rührte, machte sie eine ungeduldige Handbewegung.
„Fünfzehn Pfennige kostet die Fahrt“, sagte sie.
Heilands Gedanken überschlugen sich. Er hatte die Jacke im Zimmer mit dem Wandtresor ausgezogen, natürlich! Was für ein gottverdammter Mist!
„Kein Geld dabei, junger Mann?“Die Schaffnerin zog die Brauen hoch, die Blicke einiger Fahrgäste trafen Heiland, und er hörte endlich auf, seinen Pullover abzutasten. Stattdessen durchwühlte er seine Hosentaschen, wo er weder einen Groschen noch einen Pfennig fand.
Schade, dass er die Schaffnerin nicht kannte. Er blickte zum Führerstand. Wenn doch bloß seine Tante, die Straßenbahnfahrerin, dort gestanden hätte! Doch ein Mann hantierte an den Armaturen herum, und auch den kannte er nicht. Verfluchter Mist!
Die Schaffnerin musterte ihn mit hochgezogenen Brauen und zur Schulter geneigtem Kopf. „Könnt mich in den Arsch beißen.“Heiland versuchte zu feixen. „Hab glatt meine Jacke in der Kneipe vergessen, samt Börse.“Es fiel ihm nicht schwer, den Zerknirschten zu geben. „Mist, verdammter!“
„Na, dann steigen Se mal an der nächsten Haltestelle wieder aus, junger Mann“, sagte die Schaffnerin, „dann hamses nich so weit zurück zur Kneipe.“
Heiland nickte, bedankte sich und wusste selbst nicht, wofür.
Er blieb auf der Fahrerplattform stehen, umklammerte eine Dachstange und hielt sich daran fest, als würde er ohne diesen Halt im Boden versinken müssen.