Luxemburger Wort

„Die Kinder stehen unter Dauerstres­s“

Die MSF-Kinderpsyc­hologin Katrin Glatz-Brubakk berichtet über den dramatisch­en Alltag von Flüchtling­skindern auf Lesbos

- Interview: Philipp Hedemann

Katrin Glatz-Brubakk (50) ist Kinderpsyc­hologin und behandelt auf der griechisch­en Insel Lesbos traumatisi­erte und suizidgefä­hrdete Kinder und Jugendlich­e, die im abgebrannt­en Flüchtling­slager Moria gelebt haben. Im Interview berichtet die Mitarbeite­rin von Médecins sans frontières, warum manche ihrer jungen Patienten nicht mehr leben wollen, warum ihre Arbeit sie zum Weinen bringt und warum sie wütend auf die EU ist.

Katrin Glatz-Brubakk, worunter leiden die Kinder und Jugendlich­en in den Flüchtling­slagern auf Lesbos?

Alpträume, Konzentrat­ionsschwie­rigkeiten, extrem niedrige Frustratio­nstoleranz, Aggressivi­tät und Panikattac­ken. Manche Kinder ziehen sich fast vollständi­g von der Welt zurück. Sie spielen nicht mehr, manche haben seit acht Monaten kaum ein Wort gesprochen. Andere sind so apathisch, dass sie nicht mehr selber essen und gefüttert werden müssen. Sie sind so antriebslo­s, dass sie nicht einmal mehr selber zur Toilette gehen.

Welche weiteren Probleme haben die Kinder?

Seitdem das Lager Moria abgebrannt ist, gibt es hier viele Kinder, die schlafwand­eln. Das Feuer hat die Kinder im September letzten Jahres aus dem Schlaf gerissen. Nachts laufen sie durchs Lager und schreien: „Hilfe! Es brennt! Ich sterbe!“Da das neue Lager direkt am Wasser liegt, binden mittlerwei­le manche Eltern ihre Kinder nachts fest, damit sie nicht ins Meer laufen und ertrinken. Manche Kinder leiden unter schwersten Depression­en. Sie verletzen sich, indem sie sich selbst beißen, sich die Haare ausreißen oder ihren Kopf gegen die Wand oder den Fußboden schlagen, bis sie bluten.

Gibt es auch Kinder, die so verzweifel­t sind, dass sie sterben wollen?

Ja. Im Jahr 2020 hat Ärzte ohne Grenzen 50 Kinder wegen schwerer Selbsttötu­ngsgedanke­n oder Suizidvers­uchen behandelt. Zum Glück wissen kleine Kinder noch nicht genau, wie man sich umbringt. Sie wissen nicht, wie viele Tabletten man schlucken muss oder wie lange man unter Wasser bleiben muss, um zu sterben. Darum führt nicht jeder Suizidvers­uch zu akuter Lebensgefa­hr.

Aber darum geht es nicht. Es geht um den unerträgli­chen Zustand, dass Kinder so sehr leiden, dass sie nur noch einschlafe­n und nicht mehr aufwachen wollen!

Wie alt sind die Kinder, die nicht mehr leben wollen?

Das jüngste Mädchen war acht Jahre alt. Es hat versucht, sich zu erhängen. In diesem Jahr haben wir schon drei Kinder nach Suizidvers­uchen behandelt. Unter ihnen ist ein 13-jähriger Junge aus Afghanista­n, der schon sehr viele Selbstmord­versuche hinter sich hat.

Wie hat er versucht, sich umzubringe­n?

Er hat Tabletten geschluckt, er ist ins Meer gerannt, um sich zu ertränken, er hat versucht, vor ein fahrendes Auto zu springen, er hat sich mit Scherben und Rasierklin­gen aufgeschni­tten. Die Familie versteckt jetzt alles, was scharf ist und lässt ihren Sohn nicht mehr aus den Augen. Immer, wenn ich eine Nachricht auf mein Mobiltelef­on bekomme, schlägt mir das

Herz bis zum Hals, denn ich habe ständig Angst, eine schlimme Nachricht von den Eltern zu bekommen. (Katrin Glatz-Brubakks Augen füllen sich mit Tränen, sie braucht Zeit, um sich zu sammeln.)

Das Schicksal dieses Jungen nimmt Sie offensicht­lich stark mit ...

Natürlich! Es macht mich fertig, wenn Kinder nur noch sterben wollen und wir sie wieder zurück in die Bedingunge­n schicken müssen, die sie krank gemacht haben. So geht eine ganze Generation von Flüchtling­skindern kaputt.

Weinen Sie oft?

Das passiert manchmal. Aber ich versuche, nicht vor den Patientinn­en und Patienten zu weinen. Schließlic­h geht es um ihre Trauer, nicht um meine. Manchmal kommen mir im Gespräch mit Patientinn­en und Patienten die Tränen. Aber ich glaube, wenn mich die schrecklic­hen Schicksale meiner Patienten nicht mehr berühren, bin ich abgestumpf­t und muss etwas anderes machen.

Ihr Job ist offensicht­lich sehr belastend. Was motiviert Sie, dennoch weiterzuma­chen?

Wenn ein Kind nach monatelang­em Schweigen endlich wieder spricht und lacht oder eine Mutter mir vor Freude um den Hals fällt, weil ihre Kinder endlich wieder spielen.

Die Eltern von Patienten fallen Ihnen um den Hals? Verstößt das nicht gegen die CoronaVors­chriften?

Manchmal ist es einfach wichtiger, eine Menschense­ele zu retten, als sich an alle Regeln zu halten.

Wie können Sie dem Jungen, der schon mehrmals versucht hat, sich umzubringe­n, helfen?

Wir sehen ihn und seine Eltern mehrmals Mal pro Woche. Wenn nötig, verschreib­en wir Medikament­e und erstellen mit den Eltern Sicherheit­spläne. Wir versuchen, die Lage – soweit es unter den Bedingunge­n hier geht – zu stabilisie­ren, bis die Kinder in eine psychiatri­sche Klinik auf dem griechisch­en Festland verlegt werden können. Nur in so einer Einrichtun­g kann eine richtige Behandlung erfolgen.

Wie können Sie anderen psychisch kranken Kindern helfen?

Indem wir mit ihnen sprechen, spielen und malen. Beim Spielen können die Kinder sich zumindest kurz entspannen. Das baut das Stresshorm­on-Level im Körper ab. So werden Kinder wieder in die Lage versetzt, sich zu konzentrie­ren und zu lernen. Gestern habe ich einen sechsjähri­gen Jungen aus Syrien, der seit vier Monaten bei uns in der Therapie ist, beim Spielen das erste Mal lächeln sehen. Ein kleines Wunder! Mit den älteren Kindern sprechen wir, um gute, aber verschütte­t gegangene und Mut machende Erinnerung­en wieder hervorzuho­len. Viele Kinder malen Schulen, weil sie endlich wieder zur Schule gehen wollen. Ein siebenjähr­iger Junge aus Syrien malt ständig sein grünes Fahrrad, das bei der Bombardier­ung seines Elternhaus­es zerstört wurde. Er würde so gerne wieder Fahrrad fahren! Wenn Kinder keine Träume, Wünsche und Pläne mehr haben, sehen sie keinen Grund mehr, morgens aufzustehe­n und weiterzule­ben. Das müssen wir verhindern.

Machen die Flüchtling­slager Kinder psychisch krank?

Auf jeden Fall! Viele, die vorher noch nicht psychisch krank waren, werden es hier. Die meisten Kinder sind aber bereits von dem traumatisi­ert, was sie in ihrer Heimat oder auf der Flucht erlebt haben. Sie haben erlebt, wie Familienan­gehörige verhungert sind oder vor ihren Augen enthauptet wurden. Ein Mädchen, das ich behandele, hat auf der Flucht durch die Berge mitbekomme­n, wie ihre Mutter und ihr Bruder erfroren sind. Viele haben erlebt, wie Angehörige ertrunken sind, als die völlig überladene­n Schlauchbo­ote zwischen der Türkei und Griechenla­nd sanken. Vor allem Mädchen, die alleine flohen, wurden oft vielfach vergewalti­gt.

Im abgebrannt­en Lager Moria haben Kinder mitansehen müssen, wie Menschen bei Messerstec­hereien verletzt oder getötet wurden. Im neuen Lager fürchten sie sich davor, dass ein Winterstur­m ihr Zelt wegweht oder jemand ins Zelt einbricht. Mädchen haben Angst vor Vergewalti­gungen. Es gibt im Lager keinen einzigen Ort, an dem sie sich sicher fühlen.

Sind die Bedingunge­n im neuen Lager besser?

Nein! Zwar wurden vor Kurzem ein paar Paletten unter die Zelte gelegt, sodass sie nicht ständig überflutet sind, sondern nur manchmal. Zwar hat man jetzt Plastikpla­nen über ein paar Zelte gezogen, damit es nicht ständig hineinregn­et, sondern nur manchmal. Und es gibt jetzt ein paar Duschen im Lager, damit man sich zumindest einmal pro Woche waschen kann. Früher war das hier gar nicht möglich.

Aber es gibt immer noch viel zu wenig Toiletten. Und die sind so dreckig, dass viele Menschen möglichst wenig essen und trinken, damit sie nicht so oft aufs

Klo müssen. Das Essen, für das sie lange Schlange stehen müssen, ist oft zu wenig und manchmal vergammelt. Immerhin haben die verschärft­en Sicherheit­smaßnahmen dazu geführt, dass es weniger Messerstec­hereien gibt. Aber alles in allem kann man das doch nicht Verbesseru­ng nennen! Den meisten Menschen geht es jetzt schlechter als es ihnen im katastroph­alen Lager Moria ging.

Warum?

Weil ihre Hoffnung schwindet. Fast 80 Prozent der Menschen, die jetzt in den Flüchtling­slagern auf Lesbos leben, sind seit mindestens 15 Monaten hier. Sie sind zermürbt. Mittlerwei­le geben viele die Hoffnung auf, dass das Leben jemals besser wird. Bei vielen Menschen sind die Reserven aufgebrauc­ht. Sie brechen einfach zusammen.

Manche Kinder sind so antriebslo­s, dass sie nicht einmal mehr selber zur Toilette gehen.

Den meisten Menschen geht es jetzt schlechter als es ihnen im katastroph­alen Lager Moria ging.

Leiden Kinder stärker als Erwachsene unter der Perspektiv­losigkeit?

Kinder leiden sehr stark unter Perspektiv­losigkeit. Wir Erwachsene­n haben Lebenserfa­hrung.

Wir haben in unserem Leben bereits Probleme erlebt und gelöst und wissen aus Erfahrung, dass nach schwierige­n Zeiten oft bessere Zeiten kommen. Vor allem Kinder, die ihr gesamtes bewusstes Leben auf der Flucht oder in einem schlimmen Flüchtling­slager verbracht haben, wissen das nicht.

Wer ist schuld daran, dass Kinder so leiden?

Das sind politische Entscheidu­ngen! Die Bedingunge­n im Lager sind nicht das Resultat einer Naturkatas­trophe. Seit über fünf Jahren machen ich und viele andere immer wieder auf diese Schande Europas aufmerksam. Politische Entscheidu­ngsträger verspreche­n uns dann, dass es besser wird – aber das Gegenteil ist der Fall! Nicht nur die Lagerbewoh­ner sind deshalb enttäuscht und wütend. Ich bin es auch. Europa guckt zu, wie diese Menschen langsam zugrunde gehen. Es ist eine politische Wahl, Menschen so zu behandeln. Ich finde, es ist eine skandalöse Wahl.

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Foto: MSF/Dora Vangi In griechisch­en Flüchtling­slagern spielt die Psychologi­n Katrin Glatz-Brubakk mit den Kindern, damit sie sich entspannen.

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