Stimme, Klänge, Bilder, Räume
Theatermacher Heiner Goebbels probt mit Schauspieler David Bennent im TNL sein neuestes szenisches Konzert
Luxemburg ist so etwas wie eine Insel für Theaterproben mitten in einem Ozean der Lockdowns. Während in vielen Ländern Tänzer, Schauspieler und Musiker kaum gemeinsam miteinander proben können, läuft der Kulturbetrieb in Luxemburg zwar wohl unter sehr strengen Vorschriften, aber dennoch recht gut. Und das führt Schauspieler, Regisseure, Choreographen und Lichttechniker in die Theaterhäuser des Großherzogtums, um an Bühnenproduktionen zu feilen, die sehr international ausgerichtet sind und nach Gastspielen im Ausland auch wieder nach Luxemburg zurückkehren werden; vielleicht nicht sofort während der aktuellen Spielzeit, aber spätestens im Herbst zur Rentrée.
So war vor zwei Wochen auch der Schweizer Schauspieler David Bennent zusammen mit Musikern des Ensemble Modern und dem deutschen Komponisten und Theatermacher Heiner Goebbels im Théâtre National du Luxembourg zu Gast, um ein szenisches Konzert nach Texten des belgischen Malers und Dichters Henri Michaux zu proben. Dieses Stück in deutscher und französischer Sprache heißt „Liberté d’action“und wird im kommenden Herbst im TNL aufgeführt.
Bei der Probe stehen zwei Flügel beidseitig zur Bühne, auf die blaues Licht fällt. Es erklingt die Stimme des Schauspielers David Bennent, der abwechselnd in deutscher und französischer Sprache die Texte von Michaux rezitiert – manchmal sind es auch nur Wortfetzen, die man zwischen den Klängen der beiden Flügel mitbekommt. Das Klavierspiel ist zuweilen dissonant, oft werden auch die Klaviersaiten gezupft; und David Bennents Stimme korrespondiert zu diesem ganz besonderen Sound.
„Für mich ist es ein unbeschreibliches Glück, dieses Theater und auch dieses Vertrauen hier zu finden“, freut sich Heiner Goebbels. „Ich muss immer mit den Proben sehr früh anfangen, und ich hatte die Idee für dieses Stück relativ spät – aber das Haus hier war schnell bereit, auf dieses Projekt aufzuspringen und mir dabei zu helfen“, sagte er vorige Woche.
Zu Henri Michaux hat er auf Anregung unter anderem der französischen Choreographin Mathilde Monnier gefunden, mit der er vor etwa 20 Jahren drei Stücke erschaffen hat, die vom belgischen Surrealisten inspiriert waren. „Das ist kein Zufall. Michaux hat immer etwas Gestisches, der Körper spielt mit, er schreibt mit, er malt, und es überrascht nicht, dass Michaux eine so große Inspirationsquelle für Choreographen ist.“
„Henri Michaux hat
mich inspiriert“
Während des zweiten Lockdowns hat Heiner Goebbels die Michaux-Texte neu gelesen. „Das hat mich inspiriert, auch gerade in dieser besonderen Zeit unter dem Blickwinkel der Räume, die man hat und auch nicht hat.“Der Musiker und Komponist will dabei nicht ausschließen, dass ihn in der besonderen, vielleicht sogar ganz surrealen Situation der Pandemie, die Surrealität von Michaux besonders angesprochen hat. Aber dies sei eigentlich eine Frage der Wahrnehmung, die jeder selbst beantworten müsse, der sich das Stück später einmal anschauen werde. Letztlich sei es nur ein Ausgangspunkt.
Der Belgier Henri Michaux (18991984), der gleichermaßen Schriftsteller und Maler war, ist immer noch für Heiner Goebbels eine unglaublich kreative und inspirierende Quelle, und das ebenso auf unterschiedlichen Ebenen: „Ich glaube, was mich in dieser Arbeit am meisten inspiriert und fasziniert, ist, dass man von Michaux lernen kann, das Unbewusste ernst zu nehmen und auch zuzulassen, sich nicht allein dem Effekt und der Intention hinzugeben, sondern zu schauen: ,Was passiert mit mir, wenn ich das lese und höre, welche Räume öffnet das in mir, Räume, die ich mir vorher vielleicht nie vorgestellt habe?’.“
Heiner Goebbels hat so mit „Liberté d’action“ein Stück entstehen lassen, das auf besonders vielfältige Weise viele solcher nicht intentionaler Elemente
auf der Bühne vereint. Michaux habe einmal gesagt, er habe deswegen mit dem Malen angefangen, um sich von den Klischees und Stereotypen, die man beim Schreiben nutze, zu lösen, und so in einer größeren Freiheit auch den Zufall zuzulassen. Um genau an das ranzukommen, was den Menschen nicht so bewusst ist, das hat Heiner Goebbels bei diesem Projekt, wie er betont, persönlich sehr herausgefordert.
Dichter, Maler – fehlte da noch der Musiker? Ja, sagt Heiner Goebbels, der zunächst für ein Hörstück Musik improvisiert und dann erst den Text hinzugestellt hat. Dadurch habe er eine Methode erfunden, um die beiden künstlerischen Medien von Henri Michaux in einem dritten Medium, einem akustischen, wieder näher zueinander zu führen.
Erst vor Kurzem hat der Theatermacher eine neue Biografie über Michaux gelesen, in der kaum etwas über Musik steht, die aber dennoch einen versteckten Hinweis enthält: Michaux’ Nachbarin wird darin zitiert. Sie berichtet, der Künstler habe nach dem Unfalltod seiner Frau die ganze Nacht am Klavier improvisiert. „Das zeigt, dass er die Musik und die Komposition auch im Blick hatte“, meint Heiner Goebbels, „und ich dachte mir: ,Aha, wenn er schon die ganze Nacht durchgehämmert hat, dann ist das Klavier vielleicht auch das passende Instrument für ihn.’“
Die Musik wurde nicht – wie man annehmen könnte – auf die Texte komponiert. Heiner Goebbels hat eine Woche lang nur improvisiert. Dann wurden die Texte gesprochen und die Aufnahmen mit der Musik konfrontiert, damit sie sich begegnen, „um so zu schauen, wie sie sich anfechten“. Dieses Ineinandergreifen hat der Komponist dann in eine Partitur transkribieren lassen, und nach dieser Partitur wird nun das Stück für die Bühne inszeniert.
„Sein Sprechen hat Bedeutungsoffenheit“
Wichtig in dieser Produktion neben den zwei Pianisten des renommierten Ensemble Modern ist auch Schauspieler David Bennent, mit dem Heiner Goebbels schon mehrfach zusammengearbeitet hat: „Gerade um diesen stereotypen Umgang mit der Sprache zu umgehen, den man oft auf der Bühne hört, mag ich David Bennent. Er hat eine Stimme, die irgendwo zwischen den Bedeutungen ist. Sie kann alt sein, auch jung, männlich und weiblich, und entspricht keinem Schauspielerklischee. Es geht mir um die Bedeutungsoffenheit, die sein Sprechen hat. Die Worte, die Klänge, die Bilder, sie werden am Ende auf der Bühne so stark sein, dass jeder sich selbst seine Deutung bauen kann.“
Dass das Stück zugleich in deutscher und französischer Sprache aufgeführt wird, ist für den Theatermacher wesentlich, wobei es aber wichtig sei, dass man sich als Zuschauer nicht nur auf das Gesprochene einlasse.
Von Henri Michaux kann man lernen, das Unbewusste ernst zu nehmen und auch mal zuzulassen. Heiner Goebbels