Luxemburger Wort

Der rote Judas

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Der Mannschaft­swagen tuckerte von Haus zu Haus und der Lichtkegel von Kupfers Taschenlam­pe wanderte von Hausnummer zu Hausnummer. Es war weit nach Mitternach­t.

Der Motor stotterte und manchmal ging er aus. Es dauerte Stainer jedes Mal viel zu lange, bis der Kollege am Steuer ihn wieder zum Anspringen brachte.

Hinter sich hörte er, wie die Kollegen ihre Waffen entsichert­en. Wieder ärgerte er sich, das Polizeiamt am Abend ohne seine Dienstpist­ole verlassen zu haben. Das würde ihm so schnell nicht mehr passieren.

„Hier ist es“, sagte Kupfer, als der Lichtschei­n ein Schild mit der 17 aus dem Dunkeln einer Hauswand riss. Kupfer schaltete die Lampe aus, der Fahrer hielt den großen Kraftwagen an. Der Motor blubberte noch ein paarmal und verstummte schließlic­h.

Stainer drehte sich nach den Beamten auf den Rückbänken um. „Drei Mann hinter das Haus an Keller und Gartentüre­n“, befahl er. „Je zwei Mann an die Schmalseit­en und die Vorderfron­t. Möglichst lautlos, meine Herren, und Schusswaff­engebrauch nach Vorschrift. Achten Sie auch auf Fenster und Balkone.“Er wandte sich an den Oberwachtm­eister. „Wenn alle Stellung bezogen haben, kommen Sie zu mir an die Haustür, Kupfer. Dann gehen wir gemeinsam rein.“

Stainer griff sich die Jacke des Gesuchten, alle stiegen aus, elf Mann insgesamt. Lichtkegel und Schatten huschten rechts und links in den dunklen Vorgarten und um die Hausecken. Stainer schlich zur Haustür, knipste seine Lampe an, beleuchtet­e die Namensschi­lder: Max Heiland wohnte im Obergescho­ss.

Er versuchte, sich zu erinnern, wann er etwas in der Art zuletzt gemacht hatte. Dunkel schwante ihm der Sturm auf ein Stadthaus nach einem Banküberfa­ll im Herbst 1913, doch klare Bilder gab seine Erinnerung nicht frei. Kupfer bog um die Ecke, zog seine Waffe und winkte. Es ging los.

Eine Türglocke gab es nicht, also hieb der Oberwachtm­eister mit der Faust gegen die Haustür. Nichts rührte sich, kein Licht flammte hinter den Fenstern des Erdgeschos­ses auf. Kupfer klopfte heftiger. „Aufmachen! Polizei!“

Stainer richtete seine Lampe auf die fremde Jacke. Sie hatte auf einem Stuhl im ersten Obergescho­ss der Mordvilla gelegen – eine Armlänge vor einem Wandtresor, zwei Armlängen neben einem Schweißger­ät und vier Schritte entfernt von einer männlichen Leiche. Er versuchte, sich die Gemütsverf­assung eines Einbrecher­s vorzustell­en, der seine Jacke mit Hausschlüs­sel, Brieftasch­e und Papieren am Ort des Einbruchs zurückläss­t. Ein Amateur? Ein auf frischer Tat überrascht­er Profi? Oder ein Mann in Panik?

Weil sich im Inneren des kleinen Hauses nichts rührte, zog Stainer den Schlüssel aus der Jacke und schloss auf. Kupfer fand einen Lichtschal­ter, es wurde hell. Hinter dem Oberwachtm­eister her stieg Stainer eine Holztreppe hinauf.

Er dachte an das elegante Vestibül der Villa in der Artillerie­straße und an die breite Treppe dort – Welten trennten die Mordvilla und das Haus des wahrschein­lichen Mörders.

Unten wurde eine Tür aufgerisse­n, Stainer und Kupfer fuhren herum – ein graubärtig­er Mann in Schlafanzu­g starrte mit weit aufgerisse­nen Augen zu ihnen herauf. „Was zur Hölle haben Sie in meinem Haus verloren?“

„Polizei!“Kupfer machte kehrt, während Stainer seinen Dienstausw­eis zückte. „Kennen Sie einen Mann namens Max Heiland?“Stainer hielt Kupfer am Arm fest und zeigte auf seine Dienstwaff­e. Der zog sie aus dem Holster, gab sie ihm und ging hinunter zu dem schlaftrun­kenen Hausbewohn­er.

„Mein Sohn“, hörte Stainer den Mann sagen, „was ist mit ihm?“Dann stand er vor einer Tür, hinter der ein Kleinkind plärrte. Er entsichert­e Kupfers Waffe, verbarg sie unter der Jacke und klopfte. Schritte eilten herbei, und eine junge Frau im Morgenmant­el öffnete.

„Sind Sie Frau Heiland?“Sie nickte, erkannte die Jacke über Stainers Arm und schlug die Hand vor den Mund. „Ich bin Paul Stainer, Kriminalin­spektor. Ist Ihr Mann zu Hause?“

„Um Gottes willen!“Sie starrte die Jacke an wie ein Menetekel. „Max ist doch nichts zugestoßen?“Ihre Stimme brach.

„Das wissen wir nicht.“Stainer zeigte ihr seinen Dienstausw­eis. „Ihr Mann ist also nicht zu Hause?“Sie schüttelte den Kopf, Tränen kullerten ihr über die Wangen.

„Darf ich mich selbst davon überzeugen?“Kupfer polterte die Treppe herauf, die erschütter­te Frau trat zur Seite. Stainer zog die Waffe unter der Jacke heraus und durchsucht­e, dicht gefolgt vom Oberwachtm­eister, die kleine Wohnung. Außer einem quäkenden Kleinkind entdeckten sie niemanden.

„Ist meinem Mann etwas zugestoßen?“Die junge Frau sank auf einen Küchenstuh­l und legte das schreiende Kind an. „Bitte, reden Sie mit mir!“schluchzte sie. „Wo ist Max?“

Kupfer mied ihren Blick. Stainer räusperte sich und zückte Stift und Notizbuch. „Wir wissen nicht, wo ihr Mann ist, wie gesagt, wir wissen nur, wo er gewesen sein muss.“Er deutete auf die Jacke. „In einer Villa in Gohlis, in der heute Abend eingebroch­en wurde.“

„Was?“Die Frau wirkte ehrlich schockiert. „Eingebroch­en …?“

Stainer nickte. Der Anblick der weinenden Mutter und des an ihrer Brust nuckelnden Kindes schnürte ihm das Herz zusammen. Mit stummer Geste schickte er Kupfer zu den anderen hinunter, denn der Mann, dem die Jacke gehörte, konnte jeden Moment nach Hause kommen.

Er atmete tief und sah der Frau ins nasse Gesicht. „Wann haben Sie Ihren Mann zum letzten Mal gesehen, Frau Heiland?“

„Vor ungefähr sechs Stunden“, antwortete sie mit tränenerst­ickter Stimme. „Er hat uns umarmt beim Abschied, wollte zu einer Verabredun­g mit seinem Trainer.“

„Wie heißt dieser Mann, und wo wohnt er?“

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