Training ohne klares Ziel vor Augen
Wie sich die luxemburgische Triathletin Sophie Margue auch ohne Wettkampfperspektive für den Sport motiviert
Wenn Sophie Margue ihre Laufschuhe schnürt, hat sie die Hektik der Hauptstadt schnell hinter sich gebracht: Es sind nur zwei Kilometer von ihrem Haus in Cents bis zum Wald. Auch bei ihren Radausfahrten ist die Triathletin direkt in der Natur – sei es bei schnellen, flachen Touren im Moseltal oder bei ausgiebigen, hügeligen Fahrten vor allem im Norden und Osten des Landes.
Doch in ihrer dritten Disziplin hat die Hochleistungssportlerin schon seit Monaten nicht mehr unkompliziert trainieren können. Schwimmen ist in Corona-Zeiten eine äußerst bürokratische Angelegenheit: Seit die Schwimmhallen wieder geöffnet sind, muss man sich mit vielen anderen Interessenten einen digitalen Wettkampf um die wenigen verfügbaren Zeitfenster liefern. Da man für zwei Wochen im Voraus planen und reservieren muss, ist keine Spontaneität möglich – ein Problem für eine Fotografin mit flexiblen Arbeitszeiten.
Planung – das ist etwas, was Margue eigentlich mag. Mehr als zwei Jahrzehnte lang hat die 30Jährige ihren Alltag vor allem an Wettkämpfen orientiert, ist Abertausende Kilometer geradelt, geschwommen und gelaufen. Doch seit einem Jahr ist der Amateursport in einer gewaltigen Krise. Während die berühmten Fußballligen weiter laufen und Großereignisse wie die Tour de France trotz Lockdowns genehmigt werden, finden Wettkämpfe für ambitionierte Hochleistungssportler aus dem semiprofessionellen Bereich nicht statt.
Vor vier Jahren, im Februar 2017, hat Margue ihre berufliche Karriere als Freelance-Fotografin begonnen. Es ist ein spannender Job: Sie dokumentiert Veranstaltungen, porträtiert interessante Personen der Zeitgeschichte vom Großherzog bis zum Apollo-Astronauten Buzz Aldrin. Nach turbulenten Monaten im vergangenen Jahr läuft ihr Geschäft nun wieder besser, während der Sport jedoch nach wie vor keine wirklichen Perspektiven bietet. In dieser Situation würden viele Menschen es wohl ruhiger angehen lassen, sich auf den Job statt auf das Hobby konzentrieren. Doch Margue steckt weiterhin an sechs von sieben Wochentagen viel Energie in ihr Training. Woher nimmt sie die Motivation dafür, ohne eine tragfähige Perspektive zu haben?
Erstes Radrennen mit sechs Jahren
Margue hat schon Zeiten durchlebt, in denen sie verletzungsbedingt etwas weniger Sport machte. Doch 2020 war ganz anders: „Seit ich sechs Jahre bin, war es das erste Jahr ohne irgendeinen Wettkampf.“Als junges Mädchen hatten Sophie und ihr Bruder Frédéric an einem Kinderradrennen teilgenommen – zunächst einmal nur aus Spaß. Doch die kleine Sophie war angefixt und entwickelte Ehrgeiz: „Der Wettkampf war immer das Ziel, auf das ich hingearbeitet habe“, sagt Margue: „Ich wollte vorne mit dabei sein – und
Im Schnitt trainiert Sophie Margue im Winter zwölf Stunden pro Woche, im Sommer sind es 15. ich wollte die Jungen hinter mir lassen.“
Bei der Frage nach ihren größten sportlichen Höhepunkten denkt Margue gern an ihre Jugendjahre zurück: Damals habe sie immer davon geträumt, einmal bei einem Europa- oder Weltcup zu starten. „Als ich mich dann für die Europameisterschaften qualifiziert habe, war das für mich riesig – aber der Wettkampf ging total in die Hose.“Auch die nächsten Jahre waren sportlich schwierig: Margue trat über die Sprintdistanz (750 m Schwimmen, 20 km Radfahren, 5 km Laufen) und die Kurzdistanz (1 500 m, 40 km und 10 km) bei mehreren Europacups an – „aber es hat nicht geklappt“.
Aufstieg in die Spitze
Als sie 2012 zum Mediadesign- und Kunstgeschichtsstudium nach München ging, dachte sie sogar ans Aufhören. Doch das neue Lebensumfeld bot ihr die Chance, noch einmal durchzustarten – mit neuem Trainer und neuem Verein. Das übliche Studentenleben mit verkaterten Wochenenden lebte sie nicht: „Ich war nie so die Partymaus.“Aus Alkohol habe sie sich nie etwas gemacht, verrät sie – doch sie gehe gern aus, treffe sich mit Freunden. Margue schaffte den Sprung in die deutsche Spitze: „Das waren tolle Wettkämpfe in der ersten Bundesliga“, sagt sie. Dennoch wurde sie ihren eigenen Erwartungen nicht gerecht: „Ich kam nicht da hin, wo ich hin wollte.“
Wieder einmal stand Margue vor der Frage, ob sie ihre Leistungssportkarriere fortführen oder beenden sollte. In dieser Zeit des Zweifelns lockte sie die Teilnahme an der allerersten Ausgabe des Halbironman in Remich. „Da dachte ich: Bevor ich jetzt ganz aufhöre, mache ich den noch.“Und trotz der geringen Vorbereitungszeit wurde es ein großer Erfolg – sie belegte den zweiten Platz: „Das war einer meiner schönsten Wettkämpfe“, sagt sie. Und ergänzt umgehend: „Ich habe sehr gelitten.“Sie gewann die Freude zurück und konzentrierte sich fortan auf die Mitteldistanz (1,9 km, 90 km und 21,1 km). Seitdem ging es sportlich stetig bergauf. Margue erzielte bei den jährlichen Meisterschaften immer Zweit- oder Drittplatzierungen. 2017 wurde sie dann endlich Meisterin. Und wiederholte diesen Triumph zwei Mal in Folge. So eine Titelverteidigung, „das ist jedes Jahr unglaublich schwer“, sagt Margue: „Die Konkurrenz wird ja auch besser.“
Das Sportjahr 2020 sollte sie dann einen weiteren Schritt nach vorn bringen, denn „ich hatte das Gefühl, dass ich auf der Mitteldistanz mein Potenzial erreicht habe“, bilanziert Margue. Zumindest, wenn man den Sport so wie sie als „sehr ambitioniertes Hobby“betreibe – und nicht als Profi in Vollzeit. Daher suchte sie sich eine neue Herausforderung: Die Langdistanz (3,8 km, 180 km und 42,2 km). Im Februar besuchte sie ein Trainingslager, sie war in guter Form für die ersten Wettkämpfe – die dann plötzlich einer nach dem anderen abgesagt wurden.
Schwierige Zeit
Auch die beruflichen Aufträge fielen weg. Eine Woche habe sie sich sehr schlecht gefühlt, sei auch krank geworden: „Ich wusste morgens ganz ehrlich nicht, wozu ich aufstehen sollte: Es gibt keine Wettkämpfe, es gibt keinen Beruf, ich habe keine Funktion mehr.“
Doch einfach zu resignieren, das passe nicht zu ihr, sagt Margue. Deshalb setzte sie sich mit ihrem
Coach und Bruder Frédéric zusammen, um den Trainingsplan komplett umzuwerfen. „Er hat mich ganz rausgenommen“, sagt die Athletin.
Doch irgendwann wurde Margue klar, dass sie wieder eine festere Struktur brauchte, wieder zielgerichtet Sport treiben wollte. „Mein Beruf als Fotografin ist sehr wenig planbar, aber mein Trainingsplan gibt mir einen Rahmen, der am Anfang der Woche feststeht“, sagt sie. Also zog sie das Pensum an, war in Höchstform für den angepeilten Herbst-Triathlon: „Ich war voll motiviert, ich war gut in Form, ich hatte richtig Bock darauf. Und dann wurde er wieder abgesagt.“
Das war einer meiner schönsten Wettkämpfe. Ich habe sehr gelitten. Sophie Margue über ihren ersten Halbironman in Remich 2014
Das ist jedes Jahr unglaublich schwer. Die Konkurrenz wird ja auch besser. Sophie Margue über die Mission Titelverteidigung
Der letzte Funke Hoffnung auf einen Wettkampf war dahin. Doch Margue machte das Beste aus der Situation und lief am letzten schönen Samstag des Jahres ihren ersten Marathon – wenn auch inoffiziell, auf dem Radweg bei Walferdingen und Mersch. „Das war so ziemlich der schönste Abschluss einer Saison, die eigentlich gar nicht stattgefunden hat“, sagt sie.
Hoffen auf die neue Saison
Neues Jahr, neues Glück? Die Lage ist Anfang März unübersichtlich, die ersten frühen Wettkämpfe der Saison sind bereits abgesagt oder verschoben worden. Margue ist besorgt, dass manche Organisatoren von Wettkämpfen die einbis zweijährige Durststrecke, die mit dem Wegfall von Start- und Sponsorengeldern verbunden ist, nicht überstehen könnten: „Ich weiß nicht, ob das alle überleben werden.“Ihre eigenen Saisonkosten, etwa für Startgelder, Reisekosten und Material, deckt Margue über Sponsoren ab. „Das trägt mit dazu bei, dass du motiviert bleibst, denn du weißt, da sind Leute, die dich unterstützen.“
Ihre bewährte Formel für eine Trainingswoche lautet 3-3-3: Drei Schwimmtrainings von je einer Stunde, drei Radtrainings, drei Läufe von unterschiedlicher Länge und Intensität – im Sommer auch schon mal vier Läufe und Radeinheiten. Im Durchschnitt kommt sie im Winter auf zwölf, im Sommer auf 15 Stunden Training pro Woche. Natürlich zwinge sie die berufliche Situation manchmal zu Abstrichen, „aber das ist dann schon in Ordnung“.
Was aus ihren Plänen für 2021 wird, ist ungewiss. Doch auch ohne Wettkämpfe möchte Margue weitermachen, will mit Freunden in den Bergen radeln, das Beste aus der Situation machen. Sie weiß, dass es irgendwann auch wieder Veranstaltungen geben wird: „Ich kann mich gut an einem Ziel festhalten, und wenn da nur ein Fünkchen Hoffnung ist.“